Vor einiger Zeit schrieb ich einen Beitrag für die Zeitschrift "Baumeister" über den Film "Parabeton. Pier Luigi Nervi und römischer Beton" des Dokumentarfilmers Heinz Emigholz. Im Zuge der Recherche führte ich auch ein Interview mit Heinz Emigholz zu diesem Film, aber auch zu seiner generellen Arbeitsweise und Motivation, das ich bislang nicht veröffentlicht habe. Ich denke, der Blog ist ein guter Ort hierfür.
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Heinz Emigholz (Foto: May Rigler) |
Gefroi:
In Ihrem neuen Film zu Pier Luigi Nervi gibt es die Verknüpfung mit einer
zweiten Ebene, den Betonbauten des antiken Rom. Könnten Sie die Idee dahinter
erläutern?
Emigholz:
Am Anfang stand mein Erstaunen darüber, dass beispielsweise die grandiose
Kuppel des Pantheons sich über 2000 Jahre gehalten hat. Es ist bemerkenswert,
dass der römische Beton diese Dauerhaftigkeit besitzt. Zum anderen
interessierte mich die Modernität dieser Kuppel. Es mussten über 2000 Jahre
vergehen, bis man mit der Jahrhunderthalle in Breslau wieder ähnlich große
Kuppelbauten realisierte. Die Großzügigkeit, die Grandiosität dieser römischen
Großbauten wurde von modernen Architekten und Bauingenieuren wie Nervi erkannt
und sie haben viel von ihnen gelernt. Nervis Werk lässt sich ohne diese
Vorbilder nicht verstehen. Deshalb war diese Verknüpfung für mich nahe liegend.
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Giove Anxur, Terracina, 1. Jahrhundert vor Chr. (Filmstill) |
G:
Warum wählten Sie Nervi für Ihre monografische Reihe aus? Mit seiner Haltung,
die Konstruktion zum bestimmenden Gestaltungsthema zu erheben und durch die
kreative Nutzung des Stahlbetons, die zu ganz neuen Formen führt, nimmt er eine
Sonderstellung ein. War das ein Grund?
Nervi: Pionier des einfachen und eleganten Bauens
E:
Ja. Er befand sich in einer Linie mit Maillart, dessen Arbeit ganz ähnlich
ausgerichtet war. Neue Techniken führen bei beiden zu einer schnörkellosen und
gleichzeitig extrem eleganten Gestaltung. Meine Filmreihe hatte zudem eine
gewisse Schlagseite zur Architektur. Die Bauingenieurskunst, an der mir sehr
viel liegt, war bislang nicht vertreten. Ich habe für den Film über Maillart
Gespräche geführt mit Bauingenieuren und Tragwerksplanern wie Jörg Schlaich,
David P. Billington und Christian Menn. Mich interessiert die
Bauingenieurskunst vor allem im Gegensatz zur Architektur. Es gibt ja bis heute
diesen Gegensatz zwischen den Disziplinen. Für Nervi beispielsweise war die
Bezeichnung Architekt ein Schimpfwort.
G:
Ein interessanter Widerspruch bei Nervi scheint mir zu sein, dass er selbst
sich als Teil der modernen Bewegung sah, seine Entwurfshaltung jedoch teilweise
durchaus in Kontrast zu deren Grundsätzen Funktionsgerechtigkeit, schlüssiges
Tragverhalten, rationalisierte Herstellungstechnik stand. Stefan Polónyi
schrieb in einem Aufsatz, dass die Tragwerke Nervis nicht unbedingt einer
inneren Logik gehorchen. Die angestrebte Objektivität wurde nicht erreicht.
Aber erst daraus, aus der Verkomplizierung, aus dem Mehr, entstand die
Schönheit und die Eleganz der Tragwerke Nervis. Dieser Widerspruch wurde damals
nicht erkannt.
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Nervi, Salt Warehouses, Tortona 1951 (Filmstill) |
E:
In der Tat haben wir heute eine andere Sicht darauf. Für Nervi wie Maillart war
aber der Wunsch maßgeblich, einfach und elegant zu bauen. Sie realisierten: Wir
brauchen die tragenden Wände nicht mehr, wir können Pfeilersysteme entwickeln,
die die Lasten tragen. Aus heutiger Sicht lässt sich dabei natürlich
Inkonsequentes oder Überflüssiges kritisieren, aber das interessiert mich
weniger, denn ich will keine kritischen Filme machen. Ich kann als
Dokumentarfilmer nur davon ausgehen wie es ist, nicht wie es sein sollte.
G:
Nach welchen Kriterien haben Sie die Bauten ausgewählt, die Sie gefilmt haben?
E:
Ich habe zunächst die aus meiner Sicht wichtigen Gebäude ausgewählt, musste
aber feststellen, dass man zu einigen keinen Zutritt erhält. Aus finanziellen
Gründen waren die außereuropäischen Bauten von Nervi nicht erreichbar.
G:
Erstaunlich finde ich, dass rationale funktionale Bauten wie Nervis Hallen und
Kuppeln eine solche metaphysische, transzendente Wirkung entfalten. Die Kuppeln
und Dächer scheinen zu flirren, zu schweben, erscheinen losgelöst. Sehen Sie
das auch so und wenn ja, wollten sie diese Wirkung im Film einfangen?
E:
Ja, insofern es ein Bestandteil des Bauwerkes ist. Mich hat besonders der
Kleine Sportpalast in Rom fasziniert. Die die Kuppel stützenden Y-förmigen
Stützen stehen im Außenraum und sind von innen, da hinter der Glasfassade
verborgen, im Innenraum praktisch unsichtbar. Die Kuppel wirkt wie ein Zelt,
ganz leicht, scheinbar schwebend. Aber ich dramatisiere solche Wirkungen nicht
durch filmische Mittel. Das Bauwerk ist der Fakt. Ich habe meine eigene
filmische Methode entwickelt. Einzelne Einstellungen fügen sich zu einem
Spaziergang um und durch das Gebäude. Ich arbeite mit dem Vorhandenen: dem
Gebäude, dem Licht, dem Ton vor Ort. Durch den Verzicht auf Inszenierung und
Dramatisierung setzt das Gebäude selber etwas frei. Ich nehme eine menschliche
Sicht ein, ich gehe durch das Gebäude und suche Standpunkte, die jeder Besucher
einnehmen könnte.
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Nervi, Palazzetto dello Sport, Rom, 1957 (Filmstill) |
Die verlorene Aufrichtigkeit der Moderne
G:
Woher rührt Ihr Interesse für die architektonische Moderne?
E:
Das hat biographische Gründe. Ich bin in der Wiederaufbauzeit groß geworden.
Ich entsinne mich noch an ein Micky Maus Heft aus den fünfziger Jahren, in
denen die Hallen von Nervi abgebildet waren. Das hatte mich sehr beeindruckt.
Davon abgesehen interessiere ich mich ja für eine ganz bestimmte Moderne und
beispielsweise eben nicht für das Bauhaus. Der Auslöser dafür war die
Beschäftigung mit Louis Sullivan und die fundamentale Neuerung, dass durch die
Stahlskelettbauweise die Wände ihre tragende Funktion verloren und frei
gestaltbar wurden. Mich interessiert die Frage, wie die Architekten und
Ingenieure mit den völlig neuen Möglichkeiten des Stahlbaus in der zweiten
Hälfte des 19. Jahrhunderts umgehen, welche gestalterischen Qualitäten sie der
neuen Technologie abringen. Gestalter wie Robert Maillart, Auguste Perret und
Pier Luigi Nervi kamen sehr konsequent auf geradezu klassische Formen durch Ausprobieren,
durch den Modellbau, denn vieles ließ sich damals einfach noch nicht berechnen.
Die Tragfähigkeit wurde quasi experimentell bestimmt. Deren Bauten und
Konstruktionen hatten eine Aufrichtigkeit gegenüber dem verwendeten Material,
die ich bei heutigen Architekten wie Gehry, Foster oder Hadid nicht erkennen
kann. Die Auswahl der Architekten für mein Filmprojekt „Architektur als
Autobiographie“ war sehr subjektiv und stand schon ganz am Anfang fest, um
1993. Seitdem habe ich, die 60 Kurzfilme klammere ich einmal aus, diese Filme
über das Werk von Sullivan, Loos, Maillart, Schindler, Nervi, Kiesler, Goff
gedreht. Es wird jetzt noch ein Film über Auguste Perret und ein abschließenden
mit dem Titel „Aufbruch der Moderne“ geben. Dann ist Schluss. Als ich mit
diesen Filmen anfing war das Pionierarbeit, weil es diese Art der
Architekturdokumentation noch nicht gab. Mir ging es darum, dem Zuschauer im
Kino die Möglichkeit zu geben, das Werk dieser für die Baugeschichte enorm
wichtigen, aber außerhalb von Fachkreisen zumeist wenig bekannten oder verkannten
Architekten kennenzulernen. Deshalb habe ich die Bauten in den Filmen auch ganz
simpel chronologisch gereiht. Wir können Bauten nicht über zwei, drei
Fotografien erfassen, dazu müssen wir uns in ihnen und um sie herum bewegen.
Der Film kann diese Raumerfahrung als Medium am ehesten zeigen.
G:
Es gibt den Satz, wonach man nur das sieht, was man weiß. Analysieren Sie die
Gebäude, um sie zu verstehen, bevor Sie sie filmen?
E:
Nein. Ich kann fasziniert sein von einem Bauwerk, ohne es zu verstehen. Der
Bahnhof in Chiasso von Maillart ist so ein Beispiel. Ich fand ihn fantastisch,
ohne das Tragsystem begriffen zu haben. Das hat mir erst nach dem Filmen Jörg
Schlaich einmal erklärt. Es war oft so, dass ich bestimmte Aspekte eines
Bauwerkes erst nach dem Drehen begriffen habe. Aber Filmen ist in gewisser Weise
auch eine analytische Tätigkeit. Sie sehen sehr viel konzentrierter, wenn sie
durch den Sucher blicken, weil sie Entscheidungen über bestimmte Einstellungen
fällen müssen. Das ist etwas völlig anderes als beim Spazierengehen seine
Blicke schweifen zu lassen. Meine Arbeit ist es, einen dreidimensionalen Raum auf
einer zweidimensionalen Bildfläche darzustellen, ihn in filmische Einstellungen
zu zerlegen und in der Projektion neu zu konstruieren.
Film: Bildkomposition in der Zeit
G:
Sie nutzen zumeist statische Einstellungen und keine Kamerafahrten oder
-schwenks. Hat das seinen Grund in der beschriebenen Konzentration auf
bestimmte Ausschnitte?
E:
Ja, genau. Ich mag keine bewegte Kamera, die nur ein Symbol für Bewegung ist. Wenn
die einzelnen festen Einstellungen gut komponiert und in einer Abfolge montiert
sind, dann stellt sich ja ebenfalls eine Bewegung ein. Ich öffne mich dem Raum
gegenüber und finde neue Blickwinkel. Die so gewählten Einstellungen sind
durchkomponiert, austariert. In den Bildern gibt es meist Elemente, die im
nächsten wiederauftauchen, so dass sie sich miteinander verzahnen und man einen
Eindruck des Raumes erhält. Es ist ein bestimmter Blick, der diese Filme macht.
G:
Die konsequente Bildkomposition wäre aber auch möglich im Medium der
Fotografie. Warum der Film? Geht es um die Dimension der Zeit, die der Film
hinzufügt? Es fällt auf, dass Sie zwischen raschen Schnittfolgen und lang
andauernden Einstellungen variieren.
E:
Das stimmt. Die grundsätzliche Entscheidung über die Länge der Einstellungen
wähle ich vor Ort, auch wenn ich beim Schneiden oftmals noch kürze. Das
Kriterium ist dabei die Komplexität des Bildes; man soll das Bild immer genau
sehen können. Jedes Bild ist mir wichtig; es gibt keine Schnittbilder, die nur
zu einem anderen hinführen. Zur Fotografie: Ich mag keine Tableaus, mich
interessieren Bilder nicht, die sich zu wichtig nehmen, die die Essenz von
etwas sein wollen. Wie soll man beispielsweise ein Bauwerk, das man nur in
seinen vier Dimensionen begreifen kann, sinnvoll in nur einer Fotografie darstellen?
Ich mag auch nicht die Isolation, das Herauspräparierte in der Fotografie.
Deshalb beziehe ich in meinen Filmen auch immer stärker die Umgebung mit ein.
G:
Wie laufen die Dreharbeiten konkret ab?
E:
Ich schaue erst einmal, wie das Licht fällt und überlege dann, welche Bereiche
ich zu welcher Tageszeit filmen will. Solche Entscheidungen muss man schnell
fällen. Wenn sie gerade etwas sehen, kann es im nächsten Moment schon vorbei
sein, weil sich das Licht so schnell verändert. Ich weiß da aber noch nicht,
wie ich den Film schneide. Der Gang um oder durchs Gebäude entsteht erst am
Schneidetisch und da gibt es viele Möglichkeiten. Ich drehe aber vor Ort
solange, bis ich das Gefühl habe, ich habe alles Wichtige gefilmt und zwar so,
dass es auch zusammenhängt. Wichtig ist mit dabei auch der originale Ton, den
wir vor Ort aufnehmen und dann im Studio in tagelanger Arbeit abmischen. Durch
den Ton kommen viele Dinge hinein, die man gar nicht sieht, weil sie im Off
liegen, die aber bei der Wahrnehmung des Ortes eine Rolle spielen. Der Raum,
seine Größe und Materialität, aber auch sein Umfeld, in dem er steht, wird
durch den Ton mit definiert.
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Nervi, Cuore Immocolato di Maria Chruch, Bologna 1962 (Filmstill) |
Vom menschlichen Blick
G:
Warum nutzen Sie fast ausschließlich das Normalobjektiv?
E: Ich
will ganz einfach die menschliche Sichtweise auf ein Gebäude, deshalb nutze ich
das Objektiv, was ihr am ehesten entspricht. Weitwinkelobjektive vermitteln
eine ganz andere, verzerrte Sicht. Ich möchte auch nicht den Überblick in einem
Bild, sondern, dass sich das Gebäude entfaltet im Laufe der Film-Zeit. Ich
möchte das Gebäude so zeigen wie ich es vorfinde und nicht ein idealisiertes
Gebilde.
G:
Das ist sichtbar. Man ist erstaunt darüber, in welch schlechtem Zustand viele
der Bauten Nervis sind. Das zeigen sie schonungslos.
E:
Die mangelnde Pflege ist aber nicht das eigentliche Problem. Nehmen Sie den
Palast der Arbeit in Turin. Die riesige Halle steht seit Jahren leer und wird
demnächst in ein Einkaufszentrum mit mehreren Ebenen umgebaut. Die einmalige
Konstruktion mit den Pilzpfeilern und den quadratischen, durch gläserne Fugen
voneinander getrennten Deckenplatten wird dann nicht mehr sichtbar sein.
G:
In Anbetracht der latenten Gefährdung der Gebäude bekommen Ihre Filme eine
besondere Bedeutung. Unter Umständen sind sie die einzigen filmischen Dokumentationen.
E:
Das ist so. Zwei der Häuser von Bruce Goff, die ich gefilmt habe, gibt es nicht
mehr. Sie wurden von Wirbelstürmen zerstört. Viele Häuser sind aber auch schon
so stark umgebaut worden, dass von der ursprünglichen Konzeption kaum noch
etwas zu sehen ist. So etwas drehe ich dann nicht, weil es für mich keinen Sinn
macht. Bei Goff oder Schindler ist das Problem, dass viele ihrer
Einfamilienhäuser so einzigartig und maßgeschneidert sind, dass der Erhalt für
die jetzigen Eigentümer eine finanzielle Überforderung darstellt.
G:
Wenn man den tristen Zustand vieler der gezeigten Gebäude sieht: Ist das ein
Symptom für den heutigen Zustand der Moderne, ihr Selbstbild?
E:
Das weiß ich nicht. Aber es fällt auf, dass das Werk bestimmter Architekten wie
Bruce Goff schlecht dokumentiert und auch wenig gepflegt wird, weil sie nicht
zu den Großen der Moderne zählen. Hinzu kommt der vermeintliche
Informationsüberfluss durch das Internet. Das täuscht über den geringen
Bekanntheitsgrad solcher Architekten hinweg. Jeder Zuschauer meiner Filme kann
sich Gedanken darüber machen, warum bestimmte Architekten in den Vordergrund
gestellt werden und andere vergessen werden. Und das Werk von zum Beispiel
Maillart oder Nervi leidet darunter, dass sich Architektur aktuell wieder zu
einer Fassadenkunst entwickelt und die Tragwerkskunst eher gering geschätzt
wird.
G: Herr
Emigholz, vielen Dank für das Gespräch.