5. März 2014

Amnesie in grün: Die "Ballinufer"-Vision

Begeistert berichtet die örtliche Lokalpresse über einen Vorschlag der Hamburger Grünen, das Ufer der Binnenalster von einem Straßenraum zu einem Grünzug umzugestalten. Am Ballindamm sollen Fahrbahnen wegfallen und stattdessen ein Park entlang des Wassers entstehen. "Das Ballinufer kann mit seiner angenehmen Abendsonne zu einer der schönsten Erholungsflächen in Hamburg werden" lassen sie verlautbaren und damit man es auch ja versteht, werden bunte Zeichnungen voller Federball spielernder, schaukelnder und auf dem Rasen dösender Naherholungsuchender gezeigt.

"Ballinufer"-Vision der Grünen

Mir ist diese Idee ein Graus. Ich möchte nicht auch noch mitten in der Innenstadt mit der ohnehin an allen Ecken und Enden wuchernden Freizeitgesellschaft voller Casualweargrauen, Frisbeeattacken und Grillrauchvergiftung belästigt werden. Hamburg hat zahlreiche Parks in allen Stadtteilen, in denen man dem Müßiggang frönen kann. Warum ausgerechnet hier? Die Vision der Grünen zeugt vor allem von Populismus und ihrem alten Hass auf die Stadt aus Asphalt und Beton. Darüber hinaus ist sie ein Dokument fehlender Orts- und Geschichtskenntnis: Die Binnenalster mit ihren Kontor-, Waren- und Bürohäusern war traditionell städtisch, die Außenalster mit ihrem Alstervorland und dem Alsterpark immer ländlich geprägt. Es ist dieser Kontrast, der Hamburgs Zentrum so einzigartig macht. Ihn aus falsch verstandener Naturliebe zu egalisieren, in dem man alles eingrünt, passt in eine Zeit, in der alles, was grün auch automatisch gut ist. Hamburgs Charakter aber wird darunter leiden.

4. März 2014

Die konsumgerechte City - Stadtumbau durch Business Improvements Districts

Neue Stadtquartiere auf alten Brachen für die Aufsteiger und Etablierten, schicke Verwaltungsbauten für Großkonzerne und umgebaute Hafenspeicher für Kreativ-Startups, gewaltige Einkaufspassagen mit fünf Ebenen für die Shopper von nah und fern: Hamburg hat sich hübsch gemacht und in den vergangenen Jahren baulich viel dafür getan, das Gespenst der Stagnation zu verbannen. Einzig mit den öffentlichen Räumen tat man sich schwer. Zwar wurden in neuen Quartieren wie der Hafencity aufwändig gestaltete, attraktive Freiräume geschaffen, doch ansonsten gab es allenfalls Schlaglochbeseitigung oder neue Müllbehälter. Vor allem die Einzelhändler der Innenstadt waren erbost, weil das Umfeld in immer größerem Missverhältnis stand zu ihren schicken Läden und hochwertigen Waren. Das ist beileibe kein spezifisches Hamburger Problem: „Die Kommunen und andere Träger haben aufgrund der Knappheit öffentlicher Mittel ihre Aktivitäten im städtebaulichen, sozialen und kulturellen Bereich in den vergangenen Jahren insgesamt zurückgefahren. Eine Trendwende ist nicht zu erwarten. … Während die Probleme deutlich ansteigen, verringern sich die Möglichkeiten der Kommunen, die Entwicklung der Quartiere direkt oder indirekt positiv zu beeinflussen.“ (Stefan Kreutz, Thomas Krüger: Urban Improvement Districts: Neue Modelle eigentümerfinanzierter Quartiersentwicklung, Jahrbuch Stadterneuerung 2008, Berlin 2008)

BID Nikolaiquartier, Hamburg

Doch da die Hamburger Kaufleute traditionell ihre Geschicke gern selbst bestimmen, wollten sie sich mit diesem Niedergang nicht abfinden. So diskutierten sie bereits Mitte der 1990er Jahre über ein stärkeres Engagement der Grundeigentümer zur Stärkung der Standorte. Initiiert von der Handelskammer Hamburg bildeten sich erste lokale Interessensgemeinschaften. Dabei schaute man vor allem nach Nordamerika: In den USA und Kanada gab es seit den 1960er Jahren ein Modell zur Attraktivitätssteigerung von Einzelhandelsquartieren durch gemeinsame Investitionen der Gewerbetreibenden und Immobilieneigentümer: die Business Improvement Districts (BID). Doch ging es dort vor allem um eine Verbesserung von Sicherheit und Sauberkeit („safe and clean“) – eine Aufgabe, die hierzulande (noch) dem Staat im Rahmen der kommunalen Daseinsvorsorge obliegt – stand für die Hamburger Geschäftsleute eine bauliche Verbesserung des Immobilienumfelds im Vordergrund, begleitet von Maßnahmen des Facility-Managements, des Marketings und der Lobbyarbeit. Nach einem Experten-Hearing in der Handelskammer 2003 wurde der Druck auf die Politik verstärkt, dafür einen gesetzlichen Handlungsrahmen zu schaffen. Die zeigte sich erfreut ob des privatwirtschaftlichen Engagements und so beschloss die Bürgerschaft bereits 2004 das „Gesetz zur Stärkung der Einzelhandels-, Dienstleistungs- und Gewerbezentren“.
 

BID Opernboulevard, Hamburg

Das BID-Grundprinzip lautet: Private Akteure erarbeiten ein Maßnahmen- und Finanzierungskonzept zur Entwicklung eines fest umrissenen Quartiers und stellen dies allen Eigentümern zur Abstimmung. Wenn nicht mehr als 30 Prozent der Eigentümer dem Antrag widersprechen, kann die Stadt das Areal zu einem Improvement District erklären. Dadurch werden alle Eigentümer zu einer Abgabe für die Verbesserungsmaßnahmen verpflichtet – Trittbrettfahren oder Verweigerung ausgeschlossen. Die Höhe des Anteils errechnet sich aus dem Einheitswert des Grundstücks, wobei es eine Belastungsgrenze gibt: Als Hebesatz für die Sonderabgabe dürfen maximal zehn Prozent der Einheitswerte im BID-Gebiet veranschlagt werden. Für die Beantragung eines BID sowie die Umsetzung der Maßnahmen wird ein Aufgabenträger, zumeist ein großer Baukonzern mit Erfahrung bei komplexen Projekten, ausgewählt. Die Aufsichtsbehörde kann den von ihm eingereichten BID-Antrag u.a. dann ablehnen, wenn öffentliche Belange oder die Rechte Dritter nicht ausreichend berücksichtigt wurden oder wenn das Konzept nicht geeignet erscheint, die Ziele umzusetzen. Das heißt, die Stadt hat gewisse, nicht eindeutig definierte Steuerungsmöglichkeiten. Im Anschluss schließen Stadt und Aufgabenträger einen Vertrag und die Umsetzung der zeitlich (zumeist auf drei bis fünf Jahre) begrenzten Maßnahmen beginnt. Hamburg war und ist bei den BIDs in Deutschland führend: Dem bundesweit ersten BID-Gesetz folgten rasch die ersten deutschen Innovationsquartiere: das BID Sachsentor in Bergedorf (2005, bereits abgeschlossen) und das BID Neuer Wall (2006) in der City, das bereits neu aufgelegt wurde. Gerade in der Innenstadt folgten zahlreiche weitere Maßnahmen wie die BIDs Hohe Bleichen / Heuberg, Passagenviertel und Opernboulevard. Einen quantitativen Sprung wird das 2014 startende BID Nikolai-Quartier bedeuten: Mit einem Investitionsvolumen von 9,4 Millionen Euro soll auf Initiative der Handelskammer ein gleich 15 Hektar großes Gebiet der Hamburger Altstadt zwischen Rathaus und St. Nikolai Kirche aufgewertet werden – das bislang größte europäische Innovationsquartier. Besonders umstritten ist das für 2014 geplante BID Reeperbahn, gegen das zahlreiche lokale Initiativen mobil machen. Die Stadt hat derweil 2008 das „Gesetz zur Stärkung von Wohnquartieren durch private Initiativen“ in Kraft gesetzt. Damit kann das Instrumentarium der Innovationsquartiere auch in Wohngebieten angewendet werden. Diese Ausweitung ist möglich geworden durch die Novellierung des BauGB im Jahre 2007, in der die rechtliche Grundlage geschaffen wurde für „private Initiativen zur Stärkung und Entwicklung von Bereichen der Innenstädte, Stadtteilzentren, Wohnquartiere und Gewerbezentren sowie von sonstigen für die städtebauliche Entwicklung bedeutsamen Bereichen“. Als eine der ersten Wohnquartiere soll die Großsiedlung Steilshoop zum HID (Housing Improvement District) werden.
 

BID Opernboulevard, Hamburg

Wie haben sich die BID-Maßnahmen ausgewirkt? In den Luxus-Einkaufsquartieren Neuer Wall und Hohe Bleichen / Heuberg wurde der öffentliche Raum der Klientel entsprechend aufgewertet: verbreiterte, granitgepflasterte Bürgersteige, hellerer Straßenasphalt, Terrakotta-Pflanzkübel, exotische Lebensbäume als Hingucker, extravagante Sitzbänke aus Messing… Hinzu kommen Marketingmaßnahmen wie Feste, Weihnachtsbeleuchtung und Werbepublikationen. Außerdem wurde am Neuen Wall eine Service-Gesellschaft engagiert, deren Personal den Straßenraum reinigt, für frisches Grün in den Pflanzkörben sorgt, Falschparker vertreibt und nötigenfalls die Polizei ruft. Hinzu kommen Sicherheitsleute, die morgens und abends Präsenz zeigen. Alles ist hübsch anzusehen, sauber und geordnet – und sticht dadurch (was ja Sinn der Sache war) aus dem eher abgewetzten, heterogenen und leicht schmuddeligen Umfeld der Reststadt heraus. Dies führt zur Frage, ob Hamburg dadurch nicht letztendlich wieder in wohlgestaltete, weil wohlhabende Viertel und arme, auch ästhetisch abgehängte Quartiere zerfällt. Und sind die Ziele, die die Immobilieneigentümer mit der Umgestaltung der „Innovationsbereiche“ verfolgen, nämlich die Ankurbelung ihrer Geschäfte, deckungsgleich mit dem Gemeinwohl? Die BID-Lobby spricht Klartext: „Damit aber steht zugleich fest, dass es bei den BIDs nicht vorrangig um ideelle Zweckverfolgung gehen kann. Vielmehr geht es ausdrücklich um eine Förderung der wirtschaftlichen Interessen der Beteiligten…“ (Andreas Schiefers, Rechtsbeistand der Bundesvereinigung City- und Stadtmarketing Deutschland e.V. in: cima direkt. Zeitschrift für Stadtentwicklung und Marketing, 3/2006) Die Stadtforscher der Hafencity Universität haben da Bedenken: „Die öffentliche Hand ist zudem dafür verantwortlich, … die Sicherstellung öffentlicher Belange sowie die Berücksichtigung gesamtstädtischer Ziele zu garantieren. Durch die Wahrnehmung der städtebaulichen Abstimmungspflicht der Kommune bei der erforderlichen Genehmigung … muss u.a. eine introvertierte und sozial selektive Entwicklung der Verbesserungsgebiete verhindert und einer Verschiebung von Problemen aus einem Urban Improvement District in einen anderen Stadtteil vorgebeugt werden“ (Andreas Schiefers, s.o.). Eine wichtige Erkenntnis. Nur wurde sie leider nicht im Hamburger BID-Gesetz berücksichtigt. Und ebenso wenig steht dort etwas darüber, auf welchem Weg man zu gestalterischen Lösungen kommt. Und so ist von Wettbewerben keine Spur. Stattdessen gibt es kleine Konkurrenzen, die nicht dem Wettbewerbsrecht unterliegen, oder es wird gleich direkt vergeben– ein Unding angesichts des hohen Guts, das da umgestaltet wird: unser aller öffentlicher Raum. Und noch Aspekt sei genannt: Zwar sind sich alle Fachleute einig, dass Improvement Districts immer eine Ergänzung („on top“) und kein Ersatz für die Aktivitäten der öffentlichen Hand im Rahmen der Daseinsvorsorge sein sollen, doch dafür müsste diese Grundversorgung erst einmal verbindlich definiert werden. Und: In Anbetracht aktueller kommunaler Finanzdebakel steigt der Anreiz zum Outsourcing staatlicher Aufgaben stetig.

Protestmotiv gegen den BID Reeperbahn der Initiative S.O.S. St. Pauli

Die Tatsache, dass jahrzehntelang vernachlässigte öffentliche Räume endlich saniert und gepflegt werden kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass dies getreu dem Motto „Wer zahlt, schafft an“ ausschließlich nach dem Gusto privater Grundeigentümer geschieht – mit dem Ergebnis der immer gleichen Granit- und Terrakotta-Ödnis. Wenn denn schon Kommunen und Länder sich auf diese Weise aus der Verantwortung zur Gestaltung und Pflege der öffentlichen Räume davonstehlen, müsste der Gesetzgeber zumindest stärkere Rahmenbedingungen vorgeben. Seine bisherige Haltung, die Ausgestaltung der Improvement-District-Gesetze den Ländern zu überlassen, reicht nicht aus. Eine Stadterneuerung und –entwicklung durch Private bedeutet eine Entstaatlichung auf sensiblem Terrain und bedarf genauer Regeln und scharfer öffentlicher Kontrolle, die sicherstellt, dass immer das Gemeinwohl im Vordergrund steht.
 

Claas Gefroi




3. März 2014

Die IBA in Wilhelmsburg – ein architektonisches Resümee


Diese Internationale Bauausstellung hat es Niemanden leicht gemacht. Nicht den Wilhelmsburgern, die durch den rasanten Umbau ihres Stadtteils verunsichert wurden. Nicht den Politikern, die sich Vorwürfen erwehren mussten, sich handelten gegen die Interessen der Wilhelmsburger und förderten die Gentrifizierung. Nicht den Journalisten, die von Theorieüberbau und Themenvielfalt überfordert waren. Nicht den Architekten, die sich manches Mal zwischen IBA, Bauherren und Nutzern zerrieben fühlten. Und auch nicht den IBA-Verantwortlichen, die sich des Öfteren in der unkomfortablen Position zwischen allen Stühlen befanden. Nun, da wieder Normalität in Wilhelmsburg einkehrt, wird man nüchtern resümieren können, was tatsächlich für die Elbinsel erreicht wurde.

 



Es dürfte, allen frühen Unkenrufen zum Trotz, eine ganze Menge sein. Auf der Habenseite schlägt zunächst einmal die Herausbildung eines neuen Zentrums für Wilhelmsburg zu Buche. Die Aktivierung und Umnutzung des riesigen Bereichs zwischen Wilhelmsburger Reichsstraße und Bahntrasse ist eine Maßnahme, deren Bedeutung sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch gar nicht abschätzen lässt. Wenn die Bundesstraße einmal auf das Gleisgelände verlegt ist, wird sich die Zerschneidung der Elbinsel verringern und ein völlig neues Siedlungsgebiet entstehen. So wie es jetzt schon die „Neuen Hamburger Terrassen“ zeigen, können neue Wohngebiete oder besser noch gemischte Quartiere in hervorragender Lage direkt am Inselpark (dem bisherigen IGS-Gelände) entstehen. Auch die IBA-Initiative zur Verbesserung der Bildungssituation war ein wichtiger Anstoß. Es sind Bildungseinrichtungen entstanden, um die man Wilhelmsburg beneiden wird. Natürlich beseitigt eine moderne Infrastruktur allein noch keine Benachteiligung in Bildung und Ausbildung, aber sie ist eine notwendige Voraussetzung, um dieses Problem zu lösen. Ein ebenso richtiger Ansatz der IBA war es, die lokalen Ökonomien mit Projekten wie dem Welt-Gewerbehof zu stärken; auf diesem Feld hätte man sich weitere Projekte gewünscht.

Weg vom Architekturzoo
Massiv wurde moniert, die IBA in Wilhelmsburg sei gar keine Bauausstellung im eigentlichen Sinne gewesen, da sie sich doch vorwiegend um Stadtentwicklung und Stadtplanung kümmere. Es ist dies eine sehr geschichtsvergessene Sichtweise, denn Charakter und die Zielsetzung der Internationalen Bauausstellungen haben sich bereits in den 1980er Jahren, genauer seit der „Altbau-IBA“ 1984-87 in Berlin gewandelt. Mit deren Leitbildern der „behutsamen Stadterneuerung“ und der „kritischen Rekonstruktion“ wurde ein auch architektonischer, vor allem aber städtebaulicher und planerischer Paradigmenwechsel eingeleitet, der noch heute bedeutsam ist. Und auch die IBA Emscher Park (1989-99), war weniger ein Architekturzoo als ein Mittel zum tiefgreifenden Strukturwandel einer ganzen Industrieregion. Dennoch, oder vielmehr gerade deshalb wurde sie in ihrer Wirkung als außerordentlicher Erfolg gefeiert – soziale, wirtschaftliche und stadtplanerische Fragen lassen sich nun einmal kaum mit Architektur allein beantworten. Die IBA in Wilhelmsburg hat vergleichsweise wenige architektonische Höhepunkte entwickelt, aber dafür Kräfte freigesetzt und Veränderungen ermöglicht, Allianzen geschmiedet und bürokratische Hemmnisse beseitigt – zum Wohle der Elbinsel. Vieles, was jetzt erreicht oder angeschoben wurde, beruht auf Forderungen der Wilhelmsburger, wie sie einst im Weissbuch Zukunft Elbinsel niedergeschrieben wurden.

Zentrale Achse von der BSU in den neuen Inselpark, ganz rechts: das Wälderhaus

Architektur als Opfer von Stadtentwicklung?
Ist durch die Fokussierung auf Stadtentwicklung und -planung die Architektur und der Städtebau unwichtig geworden, nur noch Mittel zum Zweck? Architekt Matthias Sauerbruch schrieb in der Wochenzeitung „Der Freitag“ über die Neue Mitte Wilhelmburg: „Im Augenblick scheint sie in erster Linie als Projektionsfläche guter Absichten zu dienen, Selbstversicherung einer Planer-Generation, die beim Gang durch die Institutionen recht sesshaft geworden ist.“ Sauerbruch kritisiert, alles sei „kleinteilig und so vielfältig, dass eine übergreifende Botschaft nicht auszumachen“ sei, die Musterausstellung wäre zwar „prinzipiell interessant, in einigen Fällen auch schön anzusehen, aber „eine Stadt ist hier nicht entstanden.“ Architektur sei „aus Sicht der Macher austauschbar“. Und Andreas Denk bemängelt in „Der Architekt“: Die Qualität der Architektur werde nicht thematisiert; die Neubauten seien bis auf wenige Ausnahmen „höchstens architektonische Mittelklasse ohne Risiko“. Sein Fazit: „Die politische Korrektheit, die das gesamte Projekt durchflutet – Multikulti, Energiewende, Metrozone – verfasst den Raum der Stadt als sozio-ökologische Notwendigkeit und lässt das architektonische Experiment als Einzelerscheinung zu, bestimmt es aber im Meer der „Maßnahmen“ und „Interventionen“ von vornherein als Marginalie – und damit als schad- und wirkungslos.“ Abgesehen von der völlig unangebrachten Polemik in Sachen „politische Korrektheit“ und „Multikulti“, mit der Denk die Bemühungen um ein besseres Miteinander und stärkere gesellschaftliche Teilhabe der Menschen aus über 100 Nationen diffamiert: Ist es denn tatsächlich so, dass in Wilhelmsburg Architektur und Städtebau als Träger von Innovationen zugunsten der Stadtentwicklung geopfert wurden?
Zugang vom S-Bahnhof zur "Mitte Wilhelmsburg" (rechts: Neubau der BSU)

Eine halbe Mitte
Nun, das Bild ist erheblich vielschichtiger als es die Vereinfacher weißmachen wollen – man nehme nur das neue Zentrum, die „Wilhelmsburger Mitte“ an der S-Bahnhaltestelle Wilhelmsburg. Natürlich: Der dort aufragende Neubau der Behörde für Stadtentwicklung und Umwelt (Entwurf: Sauerbruch Hutton) ist architektonisch keine Offenbarung: Zu sehr ähnelt der Verwaltungsbau mit seiner buntgescheckten Keramikfassade dem Umweltbundesamt in Dessau, zu plakativ ist die Geste der vor- und zurückschwingenden Gebäudeflügel, zu konventionell ist das Innere mit seinen Einzelbürozellen. Städtebaulich macht das Ensemble aus Hochhaus und zwei Flügelbauten durchaus Sinn, weil es ein Entree und Raumkanten bildet. Und das eine große Behörde nach Wilhelmsburg verlegt wird und so 1.400 Arbeitsplätze und eine zusätzliche Nachfrage nach Waren, Dienstleistungen und auch Wohnungen in den wirtschaftlich schwachen Stadtteil bringt, ist letztlich höher zu bewerten als eine mittelmäßige Architektur. Demgegenüber ist die Bebauung auf der anderen Seite der Neuenfelder Straße entlang des Bahngrabens mit Ärztehaus, „Inselakademie“, Wohnhäusern und Altenheim zu kleinteilig und brav geraten. Einzig das „Wälderhaus“, ein Ausstellungs- und Tagungszentrum mit Hotel des Architekten Andreas Heller für die Schutzgemeinschaft Deutscher Wald, sticht heraus. Das Thema Wald wird schon außen zeichenhaft durch eine mäandrierende, unbehandelte Lärchenholzfassade betont, in deren Nischen sich genauso wie auf dem begrünten Dach Flora und Fauna ansiedeln – das Haus als Biotop – übrigens auch im Inneren, denn der Hotel-Aufbau wurde komplett aus Massivholz errichtet, was ihm eine außerordentliche Behaglichkeit verleiht. Städtebaulich wurde durch die angedeutete halboffene Blockstruktur und die Nutzung der Erdgeschosse für den Einzelhandel durchaus eine urbane Figur gewählt, die jedoch darunter leidet, dass sie durch einen Grünstreifen und ein sakrosanktes Einfamilienhaus aus der Prä-IBA-Zeit vom anderen Teil der neuen „Mitte“ – der sogenannten „Bauausstellung in der Bauausstellung“ – abgetrennt bleibt.

Anspruch verfehlt? Die "Bauausstellung in der Bauausstellung" mit "Case Study Houses des 21. Jahrhunderts"

Prototypen zwischen Anspruch und Wirklichkeit
Dort ist der Name Programm: In diesem „Herzstück“ will die IBA „Case Study Houses des 21. Jahrhunderts“ zeigen, Prototypen also, die zeigen, „wie wir in Zukunft bauen und wohnen“. Vier Themenfelder hat man identifiziert: Smart Material Houses (deren „intelligente Baustoffe“, das Gebäude auf Veränderungen reagieren lassen), Smart Price Houses (die kostengünstig anspruchsvollen Wohnraum schaffen), Hybrid Houses (langlebig dank Flexibilität und Nutzungsmischung) und die von Schenk Waiblinger entworfenen Water Houses in einem Regenwasser-Rückhaltebecken. Es ist dies eine Musterhaussiedlung, in der die Mehrfamilienhäuser entsprechend ihres Themas hintereinander aufgereiht stehen mit kleinen Vorgärtchen, etwas Wiese und einer Art Dorfanger drumherum. Wohlwollend könnte man sagen, dass der Städtebau nicht von den Gebäuden ablenkt. Offenbar bezogen die Masterplaner Jo Coenen & Co und agence ter die Siedlung auf den angrenzenden Inselpark, denn es sollte eine räumliche Verzahnung zwischen IGS und IBA erreicht werden. So ist statt eines quirligen Zentrums eine beschauliche Wohnidylle entstanden, die eher an das Stadtrandlagen erinnert. Was nicht gegen die Gebäude selbst spricht, von denen einige das Interesse wecken. Im Bereich der Smart Material Houses ist das „BIQ“ (Splitterwerk mit Arup GmbH, B+G Ingenieure und Immosolar) in aller Munde , weil die vorgehängte Glaselementfassade, in der Mikroalgen wachsen, die Erzeugung regenerativer Energie besonders anschaulich macht. Das Ganze wirkt jedoch gestalterisch unausgereift, umso mehr, als die anderen Hausseiten lieblos in Dämmungen eingepackt wurden.

Das BIQ "Algenhaus"
Wie komplexe Technik für ein energieerzeugendes Gebäude besser integriert werden kann zeigt „Smart ist Grün“(Zillerplus Architekten) mit seinem System aus Photovoltaik und Solarthermie, Isolierverglasungen sowie wärmespeichernden PCM-Vorhängen. Die Wohneinheiten im Inneren sind zudem teil- als auch erweiterbar. Der Woodcube (architekturagentur, nach einem Entwurf von IfuH Institut für urbanen Holzbau) nebenan überzeugt durch den konsequenten Einsatz von Holz als Baumaterial: Fassaden, Decken und Wände bestehen aus einer Massivholzkonstruktion, die frei von Leim, Lack und Holzschutzmitteln ist – ein angemessenes Ambiente für Lohas, CO2-neutral und recyclingfähig. Von den drei Hybrid Houses seien zwei genannt: Die „Hybride Erschließung“ von Bieling Architekten soll das Nebeneinander von Wohn- und Arbeitseinheiten mittels getrennter Erschließungen über ein Schachteltreppenhaus ermöglichen mit dem Effekt, dass sich die Nutzer der Wohnungen und Büros nirgendwo begegnen. Das „Hybrid House“ (beruhend auf einem Konzept für ein Vier-Richtungs-Haus von Brandlhuber und NiehüserS, Ausführung: KPW), besticht durch die Idee, in Maisonettewohnungen mittels unterschiedlicher Ausrichtung der Ebenen Licht aus allen Himmelsrichtungen einzufangen.

Selbstbauhaus "Grundbau und Siedler" (links) und "CSH Case Study Hamburg"
Angesichts des in vielen Städten immensen Bedarfs an bezahlbaren und dennoch nicht ärmlichen Wohnraum sind die Smart Price Houses von besonderem Interesse: Sehenswert ist, wie Fusi & Ammann Architekten mit dem „Case Study #1“ ein durch Modulbauweise und hohen Vorfertigungsgrad kostengünstiges Fertighaussystem entworfen haben, dass sich als freistehendes Stadthaus, Reihenhaus oder Blockrandbebauung einsetzen lässt. Auch das hölzerne „Case Study Hamburg“ (planpark Architekten, Entwurf: Adjaye Associates) erreicht durch einen hohen Vorfertigungsgrad eine Senkung der Baukosten. Da die einzelnen Module horizontal und vertikal miteinander verbunden werden können bieten die Grundrisse eine größtmögliche Flexibilität. Der „Grundbau & Siedler“ (BeL Sozietät für Architektur) fällt sicherlich am stärksten aus dem Rahmen des Üblichen, denn hier stand der Selbstbaugedanke im Vordergrund. Zunächst wurde nur der Grundbau aus Decken, Stützen und Kern erstellt. Im zweiten Schritt können die Bewohner, ausgerüstet mit einem Handbuch, ihre Wohnungen individuell errichten – selbst die Lage der Außenwände ist nicht vorgegeben. Die Kombination aus Vorfertigung und Selbstbau spart Kosten und lässt gestalterische Freiheiten – die, dem überaus gesitteten Äußeren nach zu urteilen, kaum ausgeschöpft wurden. Nicht nur hier ahnt man, dass in der „Bauausstellung in der Bauausstellung“ manches nicht so lief wie gedacht. Einer der Gründe ist im ungewöhnlichen Verfahren zu suchen: Zunächst reichten im Rahmen von Ideenwettbewerben Architekten Vorschläge ein, für die sie (oder die IBA) anschließend Bauherren suchte. Auf deren Wunsch hin wurden viele Entwürfe stark überarbeitet, manchmal kam auch nicht der ursprüngliche Architekt zum Zuge, sondern ein anderes, vom Bauherrn gewünschtes Büro. 

Die Neuen Hamburger Terrassen (im Bild die Häuser für eine Baugemeinschaft von LAN Architecture)

Ein Naturidyll in der Stadt
Ein anderes, deutlich positiveres Bild bietet sich abseits dieses Zentrums, so zum Beispiel am Schlöperstieg mit den „Neuen Hamburger Terrassen. Unmittelbar angrenzend an den Inselpark ist ein Wohnquartier entstanden, das zwar von einem eher konservativen städtebaulichen Ansatz geprägt ist, für die dort überwiegend angesiedelten Familien jedoch ein bezahlbares Wohnidyll in naturnaher Lage bietet. Zwischen Inselpark, einem naturbelassenen Entwässerungskanal und einer als intimer Spielstraße angelegten Zugangsweg liegen Mehrfamilienhäuser unterschiedlicher Architekten und Bauherren. Bemerkenswert ist der Mehrfamilienhausriegel des Architekturbüros Wallner mit fein detaillierten Betonplattenfassaden und zwölf Wohneinheiten unterschiedlicher Typologie, die von studentischem bis barrierefreien Mehrgenerationen-Wohnen alles ermöglichen. Südlich davon entstanden vier Häuser (LAN architecture) mit 33 Wohnungen für ein Baugemeinschaftsprojekt mit dem Schwerpunkt Mehrgenerationen-Wohnen. Hinter den strengen holzverschalten Fassaden sind ebenfalls Wohnangebote großer Bandbreite zu finden. Die unterschiedlichen Architekturen harmonieren gut und auf der kleinen, von Vorgärten arrondierten Anliegerstraße tobt sommers das Leben. Der Innovationsfaktor dieser Anlage hält sich in Grenzen, dafür ist das Zusammenspiel von ansehnlicher Architektur und orts- und zielgruppengerechten Städtebau gut gelungen.

Die modernisierte Arbeiterwohnsiedlung "Weltquartier"
Neue Chancen für alte Häuser
Wie man in die Jahre gekommene Arbeiterwohnsiedlung flott macht, zeigt das „Weltquartier“. Die einst für Werftarbeiter in den 1930ern errichteten Backsteinbauten des südlichen Reiherstiegviertels, heute im Besitz der städtischen SAGA, wurden (bei nur minimalen Mieterhöhungen) nicht nur energetisch saniert (wobei das alte Mauerwerk hinter Dämmungen verschwand und von zu gleichförmig wirkenden Riemchen ersetzt wurde), sondern auch quantitativ und qualitativ verbessert (kfs Architekten). Bemerkenswert ist hier das Verfahren: Nach einer intensiven Befragung und einem aufwändigen Partizipationsverfahren wurden zahlreiche Wünsche der aus aller Herren Länder stammenden Bewohner berücksichtigt: familiengerechtere Wohnungen mit mehreren kleineren und einem größeren Zimmer, Küchen mit Essplatz, großzügige Loggien etc. Auch der Außenraum wurde (Gestaltung: Sven Andresen) mit Mieter- und Gemeinschaftsgärten sowie einem neuem Quartiersplatz und einem Bewohnerpavillon (Architekten: Kunst und Herbert) ansprechend gestaltet. Auch hier ist keine Architektur- und Städtebaurevolution vollbracht worden, aber die Art und Weise, wie bei überschaubarem Budget ein Quartier auf die Bedürfnisse der Bewohner zugeschnitten und Gemeinschaft gestiftet wurde, nötigt Respekt ab. Ergänzt wird das Quartier durch den „Welt-Gewerbehof“ (Architekten: Dalpiaz + Giannetti): Ein von lokalen, zumeist migrantischen Händlern genutztes, chaotisches Gewerbeareal wurde nicht, wie so oft, aus dem Wohngebiet heraus gedrängt, sondern mit einfachsten Mitteln und neuem Lärmschutz am Ort gehalten und aufgewertet: Flexibel als Werkstätten, Lager oder Büros nutzbare Boxen stehen unter einem gemeinsamenDach aus Polycarbonatplatten. So können die Händler und Handwerker bei jedem Wetter auch draußen werkeln, plaudern oder handeln – eine neue Chance für lokale Kleinbetriebe und ein wenig Südeuropa im hohen Norden. 

Der Energiebunker
„Stadt im Klimawandel“: Schein und Sein in der Nachhaltigkeit
Von den Projekten der „Stadt im Klimawandel“ ragt der „Energiebunker“, nicht nur im Wortsinne, heraus: Die Idee, den teilzerstörten Wilhelmsburger Flakbunker zu sanieren (HHS Planer + Architekten) und mit Solarthermie, Photovoltaik, Biomasse- und Blockheizkraftwerk sowie riesigem Warmwasserspeicher zu einer „grünen Energiezentrale“ mit Café und Aussichtsterrasse umzuwidmen, ist durchaus innovativ. Der umgenutzte Bunker ist ein Symbolbau für das Projekt einer nachhaltigen Energieversorgung Wilhelmsburgs, gewiss, aber eines mit Substanz. Dagegen fällt der noch stadtbildprägendere „Energieberg“ deutlich ab. Die Idee, die nach Dioxinfunden stillgelegte und abgedichtete Mülldeponie Georgswerder zu renaturieren und mittels Windrädern zu einem Energieerzeuger zu machen, wurde bereits in den 1990ern umgesetzt - mit neuen Windkraftanlagen, einer Photovoltaikanlage und der Nutzung des Deponiegases vervollkommnete die IBA dieses Projekt lediglich. Einzig die Öffnung des Berges mittels Infozentrum (Konermann Siegmund Architekten) und Rundweg (Häfner/Jiménez) bedeutet hier einen substantiellen Fortschritt. 

Das Sprach- und Bewegungszentrum für neuartige Therapie- und Lernangebote
Bauen für die „Bildungsoffensive“
Viel zu wenig Beachtung fanden bislang die herausragenden Bildungsprojekte dieser Bauausstellung. Früh hat man erkannt, dass die Verbesserung der Bildungssituation für Kinder und Jugendliche, aber auch die der Erwachsenen von eminenter Bedeutung für die Aufstiegschancen der zumeist sozial benachteiligten Bewohner ist. Attraktive Bildungseinrichtungen sind zudem der Schlüssel um Familien von außerhalb der Elbinsel nach Wilhelmsburg zu locken. Zu nennen ist das „Haus der Projekte“ (Architektur: Studio NL-D) am Müggenburger Zollhafen, in dem Jugendliche handwerkliche Fähigkeiten erwerben und sich so auf das Berufsleben vorbereiten können. Die an eine Werft erinnernde Gestalt ist kein Zufall, denn im Inneren gibt es eine vollwertige Bootswerkstatt. Das der Verknüpfung von Sprach- und Bewegungsangeboten dienende „Sprach- und Bewegungszentrum“ (eins:eins Architekten) gibt sich außen (mit wunderbaren Recycling-Klinkern aus Brandenburg und bündig eingesetzten Fensterbändern) präzise und diszipliniert und innen farbenfroh und dynamisch. Die größte und programmatisch ambitionierteste Projekt ist jedoch das „Bildungszentrum Tor zur Welt“ von bof Architekten (Freiraumplanung: Breimann & Bruun), in dem, nach einem Planungsverfahren mit einer ungewöhnlich weitgehenden Bürgerbeteiligung, verschiedenste Bildungs- und Beratungseinrichtungen zusammengefasst und vernetzt wurden. Die miteinander verbundenen Bauten sammeln sich um eine (über eine öffentliche Straße reichende!) Agora und lassen so an einen Dorfanger denken. Das Innere ist wunderbar offen und multipel nutzbar: Die mäandrierenden Flure eignen sich mit eigens angefertigten Bänken, Tischen und Liegen auch zum Lernen, Präsentieren, Spielen; die Klassenräume wirken dank großer, tief heruntergezogener Fenster hell und freundlich. Die eigentliche Innovation ist aber die Verbindung von sich ergänzenden und befruchtenden Bildungs-, Weiterbildungs- und Beratungsangeboten für Kinder, Jugendliche und Erwachsene an einem Ort. Dies macht das „Tor zur Welt“ zu einem Bildungszentrum mit Vorbildcharakter.

Das Bildungszentrum "Tor zur Welt" fasst zahlreiche Bildungs- und Beratungsangebote zusammen
Eine IBA ist mehr als Architektur
Die IBA Hamburg hat durchaus zahlreiche innovative und gestalterisch herausragende Gebäude hervorgebracht. Der überzogene Anspruch von Kritikern jedoch, eine Bauausstellung müsse aus lauter Experimentalbauten und Fortschrittsfanalen bestehen, geht an der Wirklichkeit vorbei. Heutige IBA’s haben gänzlich andere Aufgaben und Ziele als frühere. Sie sind zu einem Mittel der Stadtentwicklung geworden, weil sie Ressourcen mobilisieren und so einen großmaßstäblichen Stadtumbau in neoliberalen Zeiten überhaupt noch möglich machen. Oberstes Ziel dieser IBA war es, mit vielfältigen (auch baulichen) Mitteln einen sozialen Wandel in diesem lange stigmatisierten und vernachlässigten Stadtteil einzuleiten. Dies hat sie geschafft, das werden die nächsten Jahre zeigen. Eine Marginalisierung der Architektur kann ich darin nicht erkennen.

Claas Gefroi

Ich danke den Fotografen herzlich für die Nutzung der Fotos. 
Alle Angaben im Text zu den Architekten beruhen auf Informationen der IBA Hamburg GmbH.

25. Februar 2014

Going Underground. Der Mojo Club II


Oliver Korthals und Leif Nüske haben mit ihrem 1991 in einem leer stehenden ehemaligen Bowlingcenter eingangs der Reeperbahn gegründeten Tanzlokal „Mojo Club“ Pionierarbeit in Sachen Musik- und Clubkultur geleistet. Allein die Idee des Clubs war etwas Neues in Deutschland. Es gab bis dahin, mit Ausnahme kleinerer Etablissements für die schwule House-Szene oder die sich entwickelnde Techno-Bewegung (der „Tresor“ in Berlin eröffnete ebenfalls 1991), nur Diskotheken – „Orte zur Anbahnung und Pflege sozialer Kontakte“, wie es auf Wikipedia heißt, mit mal besserem, mal schlechterem musikalischem Hintergrund. DJ-Musik war hierzulande, anders als in den USA, in England oder Italien, vor allem eine Dienstleistung für den heterosexuellen amüsierwilligen Mainstream. Im Mojo hingegen ging es um Stil, Musik und Tanzen – man merkte es dem Club an, dass seine Betreiber ihre Wurzeln in der Mod- und Rare-Soul-Szene hatten. In der Provinzialität deutscher „Dissen“ waren Korthals und Nüske Kosmopoliten und holten als Brückenbauer über den Ärmelkanal den Jazz, der sich in staubige Studienrat-Ecken verkrochen hatte, via London zurück und machten ihn auf dem Kontinent zum nächsten großen Ding namens: Acid Jazz, Dancefloor Jazz. Dafür flog man Größen wie Gilles Peterson oder Massive Attack zu DJ-Sets und Konzerten ein und produzierte eine eigene Sampler-Reihe. Später fügte man – wieder weit vorne - weitere, meist elektronische Musikgenres wie Drum’n’Bass hinzu, die aber immer vom Soul und Jazz beeinflusst blieben.

Eingangsluke (Foto: Thomas Baecker)

 So war es ein herber Verlust, als der Mojo Club 2003 schließen musste, weil das Gebäude für einen Büro-Neubau abgerissen werden sollte. Ob der Club in der neuen Immobilie eine Heimstatt finden würde war mehr als fraglich, denn die Jahre verstrichen, ohne dass etwas geschah. Erst 2009 erfolgte der Abriss und anschließend der Bau der euphemistisch „Tanzende Türme“ benannten Büroriesen. Es ist der Beharrlichkeit der Clubbetreiber, aber auch von Lokalpolitikern zu verdanken, dass der Mojo nun tatsächlich nach zehn Jahren Abwesenheit wieder an alter Stelle seine Pforten öffnen konnte, denn Voraussetzung für den Bau der Hochhäuser war, dem Club in den Kellergeschossen ein neues Refugium zu schaffen. Bei allem gutem Willen der Beteiligten war die Reanimation dennoch eine Operation mit ungewissem Ausgang. Zum Charme des alten Mojo gehörte schließlich das heruntergekommene Waschbetondomizil und die improvisierte Inneneinrichtung. Stattdessen nun ein durchgestylter perfekter Neubau? Würde sich so wieder die Atmosphäre von einst einstellen? 

Rang (Foto: Thomas Baecker)
 „Going Underground“ – getreu dem Schlachtruf der Mod-Band The Jam überlässt der Mojo den Spielbudenplatz dem Massen-Entertainment und bleibt (das Mojo Café im Erdgeschoss eines der Bürohäuser ausgenommen) bis zum Beginn der Nacht unsichtbar. Dann öffnen sich zwei mit dem berühmten Logo verzierte Bodenluken und die Wissenden steigen hinab in die Tiefe – was für eine symbolische Geste. Einmal eingetaucht in die Untergrundwelt auf zwei Ebenen (Architekten: Thomas Baecker Bettina Kraus) verlieren die bis zu 800 Besucher rasch die Orientierung. Keine Schilder weisen zum Dancefloor, zur Garderobe oder den Toiletten. Die einen stört das Umherirren, die anderen erkennen die Chance, die in einem ziellosen Schweifen liegt: Man verliert sich in Raum und Klang, lernt Leute kennen. Im Kern jedoch wurde hier eine Ästhetik des Verzichts zelebriert; der Club nimmt sich zurück und wird zum ordnenden Hintergrund für das, was wirklich zählt: Musik, DJs, Bands und Tänzer. Das wird nirgends so offenbar wie im Allerheiligsten: Über zwei Etagen erstreckt sich der eindrucksvolle große runde Saal, der für die Tänzer einen schwimmend gelagerten Boden aus geölten Multiplexplatten bereit hält, für DJs und Bands eine große Bühne und für Zuschauer eine geschwungene Empore bietet. Mag Leif Nüske Vergleiche mit Opernhäusern wie der Scala ziehen – man kann diesen Saal auch als eine Reminiszenz an alte englische Ballsäle wie dem Wigan Casino lesen, in denen einst der Northern Soul zelebriert wurde. Das für einen Club ungewohnt helle und statische Licht, dass die Bewegungen der Tänzer gut erkennen lässt und der Kommunikation förderlich ist, passt bestens dazu. Die Rundform des Saals ist klug gewählt: Alles konzentriert sich nach innen, auf die Mitte – die Tänzer und Musiker stehen im Mittelpunkt.

Bühne (Foto: Thomas Baecker)
Trotz viel Betons besitzt der Mojo eine warme, angenehme Atmosphäre – akustisch wie optisch. Dies ist dem Material Holz zuzuschreiben, dass nicht nur den Tanzboden bedeckt, sondern auch für Wandverkleidungen sowie raumhohe perforierte, drehbare Holzlamellen (Buche-Multiplexplatten mit Mineralwollefüllung) verwendet wird um den Raum zu strukturieren und den Schall zu dämpfen. Die zwei Barbereiche schmiegen sich dezent um den Dancefloor. Sie bestehen aus nicht viel mehr als monolithischen schweren Betonwerkplatten-Tresen, die elegant zwischen den Materialien Beton und Holz vermitteln. Nicht das kleinste Sponsoren- und Werbelogo stört den Purismus – welche Wohltat im Vergleich zum optischen Chaos anderer Amüsierbetriebe. Diese Liebe zum Detail durchzieht den ganzen Club und hört auch bei den zu einem weiteren Kreisrund angeordneten Unisex-Toiletten nicht auf, deren Türen das Thema der perforierten Holzlamellen weiterführen. Dennoch wirkt die Gestaltung des Interieurs an keiner Stelle überambitioniert oder angestrengt; Nonchalance und Lässigkeit sind Primärtugenden. 

Toiletten (Foto: Thomas Baecker)
„Keep the faith“ ist das Motto der Rare- und Northern-Soul Szene, die einst auch im Mojo ihre Allnighter feierte. Der neue Mojo bewahrt den Glauben, aber er ist nicht in der glorreichen Vergangenheit stehengeblieben. Vielmehr transportiert er die Offenheit für Neues, aber auch die Wärme eines eminent sozialen Ortes voller verbaler und körperlicher Interaktionen in die Gegenwart – und das auf einem sehr, sehr hohen Niveau. Für die von allen Seiten bedrohte Musik- und Clubkultur auf dem Kiez ist der Kellerkoloss eingangs der Reeperbahn ein wichtiges Signal: Wir bleiben, notfalls im Untergrund.

Claas Gefroi

Erschienen im aktuellen "Jahrbuch Architektur in Hamburg 2013", Junius Verlag, Hamburg

Ein manischer Modernist: Heinz Emigholz

Vor einiger Zeit schrieb ich einen Beitrag für die Zeitschrift "Baumeister" über den Film "Parabeton. Pier Luigi Nervi und römischer Beton" des Dokumentarfilmers Heinz Emigholz. Im Zuge der Recherche führte ich auch ein Interview mit Heinz Emigholz zu diesem Film, aber auch zu seiner generellen Arbeitsweise und Motivation, das ich bislang nicht veröffentlicht habe. Ich denke, der Blog ist ein guter Ort hierfür.

Heinz Emigholz (Foto: May Rigler)



Gefroi: In Ihrem neuen Film zu Pier Luigi Nervi gibt es die Verknüpfung mit einer zweiten Ebene, den Betonbauten des antiken Rom. Könnten Sie die Idee dahinter erläutern?

Emigholz: Am Anfang stand mein Erstaunen darüber, dass beispielsweise die grandiose Kuppel des Pantheons sich über 2000 Jahre gehalten hat. Es ist bemerkenswert, dass der römische Beton diese Dauerhaftigkeit besitzt. Zum anderen interessierte mich die Modernität dieser Kuppel. Es mussten über 2000 Jahre vergehen, bis man mit der Jahrhunderthalle in Breslau wieder ähnlich große Kuppelbauten realisierte. Die Großzügigkeit, die Grandiosität dieser römischen Großbauten wurde von modernen Architekten und Bauingenieuren wie Nervi erkannt und sie haben viel von ihnen gelernt. Nervis Werk lässt sich ohne diese Vorbilder nicht verstehen. Deshalb war diese Verknüpfung für mich nahe liegend.

Giove Anxur, Terracina, 1. Jahrhundert vor Chr. (Filmstill)


G: Warum wählten Sie Nervi für Ihre monografische Reihe aus? Mit seiner Haltung, die Konstruktion zum bestimmenden Gestaltungsthema zu erheben und durch die kreative Nutzung des Stahlbetons, die zu ganz neuen Formen führt, nimmt er eine Sonderstellung ein. War das ein Grund? 


Nervi: Pionier des einfachen und eleganten Bauens

E: Ja. Er befand sich in einer Linie mit Maillart, dessen Arbeit ganz ähnlich ausgerichtet war. Neue Techniken führen bei beiden zu einer schnörkellosen und gleichzeitig extrem eleganten Gestaltung. Meine Filmreihe hatte zudem eine gewisse Schlagseite zur Architektur. Die Bauingenieurskunst, an der mir sehr viel liegt, war bislang nicht vertreten. Ich habe für den Film über Maillart Gespräche geführt mit Bauingenieuren und Tragwerksplanern wie Jörg Schlaich, David P. Billington und Christian Menn. Mich interessiert die Bauingenieurskunst vor allem im Gegensatz zur Architektur. Es gibt ja bis heute diesen Gegensatz zwischen den Disziplinen. Für Nervi beispielsweise war die Bezeichnung Architekt ein Schimpfwort.

G: Ein interessanter Widerspruch bei Nervi scheint mir zu sein, dass er selbst sich als Teil der modernen Bewegung sah, seine Entwurfshaltung jedoch teilweise durchaus in Kontrast zu deren Grundsätzen Funktionsgerechtigkeit, schlüssiges Tragverhalten, rationalisierte Herstellungstechnik stand. Stefan Polónyi schrieb in einem Aufsatz, dass die Tragwerke Nervis nicht unbedingt einer inneren Logik gehorchen. Die angestrebte Objektivität wurde nicht erreicht. Aber erst daraus, aus der Verkomplizierung, aus dem Mehr, entstand die Schönheit und die Eleganz der Tragwerke Nervis. Dieser Widerspruch wurde damals nicht erkannt.

Nervi, Salt Warehouses, Tortona 1951 (Filmstill)
 
E: In der Tat haben wir heute eine andere Sicht darauf. Für Nervi wie Maillart war aber der Wunsch maßgeblich, einfach und elegant zu bauen. Sie realisierten: Wir brauchen die tragenden Wände nicht mehr, wir können Pfeilersysteme entwickeln, die die Lasten tragen. Aus heutiger Sicht lässt sich dabei natürlich Inkonsequentes oder Überflüssiges kritisieren, aber das interessiert mich weniger, denn ich will keine kritischen Filme machen. Ich kann als Dokumentarfilmer nur davon ausgehen wie es ist, nicht wie es sein sollte.

G: Nach welchen Kriterien haben Sie die Bauten ausgewählt, die Sie gefilmt haben?

E: Ich habe zunächst die aus meiner Sicht wichtigen Gebäude ausgewählt, musste aber feststellen, dass man zu einigen keinen Zutritt erhält. Aus finanziellen Gründen waren die außereuropäischen Bauten von Nervi nicht erreichbar.

G: Erstaunlich finde ich, dass rationale funktionale Bauten wie Nervis Hallen und Kuppeln eine solche metaphysische, transzendente Wirkung entfalten. Die Kuppeln und Dächer scheinen zu flirren, zu schweben, erscheinen losgelöst. Sehen Sie das auch so und wenn ja, wollten sie diese Wirkung im Film einfangen?

E: Ja, insofern es ein Bestandteil des Bauwerkes ist. Mich hat besonders der Kleine Sportpalast in Rom fasziniert. Die die Kuppel stützenden Y-förmigen Stützen stehen im Außenraum und sind von innen, da hinter der Glasfassade verborgen, im Innenraum praktisch unsichtbar. Die Kuppel wirkt wie ein Zelt, ganz leicht, scheinbar schwebend. Aber ich dramatisiere solche Wirkungen nicht durch filmische Mittel. Das Bauwerk ist der Fakt. Ich habe meine eigene filmische Methode entwickelt. Einzelne Einstellungen fügen sich zu einem Spaziergang um und durch das Gebäude. Ich arbeite mit dem Vorhandenen: dem Gebäude, dem Licht, dem Ton vor Ort. Durch den Verzicht auf Inszenierung und Dramatisierung setzt das Gebäude selber etwas frei. Ich nehme eine menschliche Sicht ein, ich gehe durch das Gebäude und suche Standpunkte, die jeder Besucher einnehmen könnte.

Nervi, Palazzetto dello Sport, Rom, 1957 (Filmstill)


Die verlorene Aufrichtigkeit der Moderne

G: Woher rührt Ihr Interesse für die architektonische Moderne?

E: Das hat biographische Gründe. Ich bin in der Wiederaufbauzeit groß geworden. Ich entsinne mich noch an ein Micky Maus Heft aus den fünfziger Jahren, in denen die Hallen von Nervi abgebildet waren. Das hatte mich sehr beeindruckt. Davon abgesehen interessiere ich mich ja für eine ganz bestimmte Moderne und beispielsweise eben nicht für das Bauhaus. Der Auslöser dafür war die Beschäftigung mit Louis Sullivan und die fundamentale Neuerung, dass durch die Stahlskelettbauweise die Wände ihre tragende Funktion verloren und frei gestaltbar wurden. Mich interessiert die Frage, wie die Architekten und Ingenieure mit den völlig neuen Möglichkeiten des Stahlbaus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts umgehen, welche gestalterischen Qualitäten sie der neuen Technologie abringen. Gestalter wie Robert Maillart, Auguste Perret und Pier Luigi Nervi kamen sehr konsequent auf geradezu klassische Formen durch Ausprobieren, durch den Modellbau, denn vieles ließ sich damals einfach noch nicht berechnen. Die Tragfähigkeit wurde quasi experimentell bestimmt. Deren Bauten und Konstruktionen hatten eine Aufrichtigkeit gegenüber dem verwendeten Material, die ich bei heutigen Architekten wie Gehry, Foster oder Hadid nicht erkennen kann. Die Auswahl der Architekten für mein Filmprojekt „Architektur als Autobiographie“ war sehr subjektiv und stand schon ganz am Anfang fest, um 1993. Seitdem habe ich, die 60 Kurzfilme klammere ich einmal aus, diese Filme über das Werk von Sullivan, Loos, Maillart, Schindler, Nervi, Kiesler, Goff gedreht. Es wird jetzt noch ein Film über Auguste Perret und ein abschließenden mit dem Titel „Aufbruch der Moderne“ geben. Dann ist Schluss. Als ich mit diesen Filmen anfing war das Pionierarbeit, weil es diese Art der Architekturdokumentation noch nicht gab. Mir ging es darum, dem Zuschauer im Kino die Möglichkeit zu geben, das Werk dieser für die Baugeschichte enorm wichtigen, aber außerhalb von Fachkreisen zumeist wenig bekannten oder verkannten Architekten kennenzulernen. Deshalb habe ich die Bauten in den Filmen auch ganz simpel chronologisch gereiht. Wir können Bauten nicht über zwei, drei Fotografien erfassen, dazu müssen wir uns in ihnen und um sie herum bewegen. Der Film kann diese Raumerfahrung als Medium am ehesten zeigen.

G: Es gibt den Satz, wonach man nur das sieht, was man weiß. Analysieren Sie die Gebäude, um sie zu verstehen, bevor Sie sie filmen?

E: Nein. Ich kann fasziniert sein von einem Bauwerk, ohne es zu verstehen. Der Bahnhof in Chiasso von Maillart ist so ein Beispiel. Ich fand ihn fantastisch, ohne das Tragsystem begriffen zu haben. Das hat mir erst nach dem Filmen Jörg Schlaich einmal erklärt. Es war oft so, dass ich bestimmte Aspekte eines Bauwerkes erst nach dem Drehen begriffen habe. Aber Filmen ist in gewisser Weise auch eine analytische Tätigkeit. Sie sehen sehr viel konzentrierter, wenn sie durch den Sucher blicken, weil sie Entscheidungen über bestimmte Einstellungen fällen müssen. Das ist etwas völlig anderes als beim Spazierengehen seine Blicke schweifen zu lassen. Meine Arbeit ist es, einen dreidimensionalen Raum auf einer zweidimensionalen Bildfläche darzustellen, ihn in filmische Einstellungen zu zerlegen und in der Projektion neu zu konstruieren.


Film: Bildkomposition in der Zeit

G: Sie nutzen zumeist statische Einstellungen und keine Kamerafahrten oder -schwenks. Hat das seinen Grund in der beschriebenen Konzentration auf bestimmte Ausschnitte?

E: Ja, genau. Ich mag keine bewegte Kamera, die nur ein Symbol für Bewegung ist. Wenn die einzelnen festen Einstellungen gut komponiert und in einer Abfolge montiert sind, dann stellt sich ja ebenfalls eine Bewegung ein. Ich öffne mich dem Raum gegenüber und finde neue Blickwinkel. Die so gewählten Einstellungen sind durchkomponiert, austariert. In den Bildern gibt es meist Elemente, die im nächsten wiederauftauchen, so dass sie sich miteinander verzahnen und man einen Eindruck des Raumes erhält. Es ist ein bestimmter Blick, der diese Filme macht.

G: Die konsequente Bildkomposition wäre aber auch möglich im Medium der Fotografie. Warum der Film? Geht es um die Dimension der Zeit, die der Film hinzufügt? Es fällt auf, dass Sie zwischen raschen Schnittfolgen und lang andauernden Einstellungen variieren.

E: Das stimmt. Die grundsätzliche Entscheidung über die Länge der Einstellungen wähle ich vor Ort, auch wenn ich beim Schneiden oftmals noch kürze. Das Kriterium ist dabei die Komplexität des Bildes; man soll das Bild immer genau sehen können. Jedes Bild ist mir wichtig; es gibt keine Schnittbilder, die nur zu einem anderen hinführen. Zur Fotografie: Ich mag keine Tableaus, mich interessieren Bilder nicht, die sich zu wichtig nehmen, die die Essenz von etwas sein wollen. Wie soll man beispielsweise ein Bauwerk, das man nur in seinen vier Dimensionen begreifen kann, sinnvoll in nur einer Fotografie darstellen? Ich mag auch nicht die Isolation, das Herauspräparierte in der Fotografie. Deshalb beziehe ich in meinen Filmen auch immer stärker die Umgebung mit ein.

G: Wie laufen die Dreharbeiten konkret ab?

E: Ich schaue erst einmal, wie das Licht fällt und überlege dann, welche Bereiche ich zu welcher Tageszeit filmen will. Solche Entscheidungen muss man schnell fällen. Wenn sie gerade etwas sehen, kann es im nächsten Moment schon vorbei sein, weil sich das Licht so schnell verändert. Ich weiß da aber noch nicht, wie ich den Film schneide. Der Gang um oder durchs Gebäude entsteht erst am Schneidetisch und da gibt es viele Möglichkeiten. Ich drehe aber vor Ort solange, bis ich das Gefühl habe, ich habe alles Wichtige gefilmt und zwar so, dass es auch zusammenhängt. Wichtig ist mit dabei auch der originale Ton, den wir vor Ort aufnehmen und dann im Studio in tagelanger Arbeit abmischen. Durch den Ton kommen viele Dinge hinein, die man gar nicht sieht, weil sie im Off liegen, die aber bei der Wahrnehmung des Ortes eine Rolle spielen. Der Raum, seine Größe und Materialität, aber auch sein Umfeld, in dem er steht, wird durch den Ton mit definiert.

Nervi, Cuore Immocolato di Maria Chruch, Bologna 1962 (Filmstill)


Vom menschlichen Blick

G: Warum nutzen Sie fast ausschließlich das Normalobjektiv?

E: Ich will ganz einfach die menschliche Sichtweise auf ein Gebäude, deshalb nutze ich das Objektiv, was ihr am ehesten entspricht. Weitwinkelobjektive vermitteln eine ganz andere, verzerrte Sicht. Ich möchte auch nicht den Überblick in einem Bild, sondern, dass sich das Gebäude entfaltet im Laufe der Film-Zeit. Ich möchte das Gebäude so zeigen wie ich es vorfinde und nicht ein idealisiertes Gebilde.

G: Das ist sichtbar. Man ist erstaunt darüber, in welch schlechtem Zustand viele der Bauten Nervis sind. Das zeigen sie schonungslos.

E: Die mangelnde Pflege ist aber nicht das eigentliche Problem. Nehmen Sie den Palast der Arbeit in Turin. Die riesige Halle steht seit Jahren leer und wird demnächst in ein Einkaufszentrum mit mehreren Ebenen umgebaut. Die einmalige Konstruktion mit den Pilzpfeilern und den quadratischen, durch gläserne Fugen voneinander getrennten Deckenplatten wird dann nicht mehr sichtbar sein.

G: In Anbetracht der latenten Gefährdung der Gebäude bekommen Ihre Filme eine besondere Bedeutung. Unter Umständen sind sie die einzigen filmischen Dokumentationen.

E: Das ist so. Zwei der Häuser von Bruce Goff, die ich gefilmt habe, gibt es nicht mehr. Sie wurden von Wirbelstürmen zerstört. Viele Häuser sind aber auch schon so stark umgebaut worden, dass von der ursprünglichen Konzeption kaum noch etwas zu sehen ist. So etwas drehe ich dann nicht, weil es für mich keinen Sinn macht. Bei Goff oder Schindler ist das Problem, dass viele ihrer Einfamilienhäuser so einzigartig und maßgeschneidert sind, dass der Erhalt für die jetzigen Eigentümer eine finanzielle Überforderung darstellt.

G: Wenn man den tristen Zustand vieler der gezeigten Gebäude sieht: Ist das ein Symptom für den heutigen Zustand der Moderne, ihr Selbstbild?

E: Das weiß ich nicht. Aber es fällt auf, dass das Werk bestimmter Architekten wie Bruce Goff schlecht dokumentiert und auch wenig gepflegt wird, weil sie nicht zu den Großen der Moderne zählen. Hinzu kommt der vermeintliche Informationsüberfluss durch das Internet. Das täuscht über den geringen Bekanntheitsgrad solcher Architekten hinweg. Jeder Zuschauer meiner Filme kann sich Gedanken darüber machen, warum bestimmte Architekten in den Vordergrund gestellt werden und andere vergessen werden. Und das Werk von zum Beispiel Maillart oder Nervi leidet darunter, dass sich Architektur aktuell wieder zu einer Fassadenkunst entwickelt und die Tragwerkskunst eher gering geschätzt wird.

G: Herr Emigholz, vielen Dank für das Gespräch.