25. Februar 2014

Going Underground. Der Mojo Club II


Oliver Korthals und Leif Nüske haben mit ihrem 1991 in einem leer stehenden ehemaligen Bowlingcenter eingangs der Reeperbahn gegründeten Tanzlokal „Mojo Club“ Pionierarbeit in Sachen Musik- und Clubkultur geleistet. Allein die Idee des Clubs war etwas Neues in Deutschland. Es gab bis dahin, mit Ausnahme kleinerer Etablissements für die schwule House-Szene oder die sich entwickelnde Techno-Bewegung (der „Tresor“ in Berlin eröffnete ebenfalls 1991), nur Diskotheken – „Orte zur Anbahnung und Pflege sozialer Kontakte“, wie es auf Wikipedia heißt, mit mal besserem, mal schlechterem musikalischem Hintergrund. DJ-Musik war hierzulande, anders als in den USA, in England oder Italien, vor allem eine Dienstleistung für den heterosexuellen amüsierwilligen Mainstream. Im Mojo hingegen ging es um Stil, Musik und Tanzen – man merkte es dem Club an, dass seine Betreiber ihre Wurzeln in der Mod- und Rare-Soul-Szene hatten. In der Provinzialität deutscher „Dissen“ waren Korthals und Nüske Kosmopoliten und holten als Brückenbauer über den Ärmelkanal den Jazz, der sich in staubige Studienrat-Ecken verkrochen hatte, via London zurück und machten ihn auf dem Kontinent zum nächsten großen Ding namens: Acid Jazz, Dancefloor Jazz. Dafür flog man Größen wie Gilles Peterson oder Massive Attack zu DJ-Sets und Konzerten ein und produzierte eine eigene Sampler-Reihe. Später fügte man – wieder weit vorne - weitere, meist elektronische Musikgenres wie Drum’n’Bass hinzu, die aber immer vom Soul und Jazz beeinflusst blieben.

Eingangsluke (Foto: Thomas Baecker)

 So war es ein herber Verlust, als der Mojo Club 2003 schließen musste, weil das Gebäude für einen Büro-Neubau abgerissen werden sollte. Ob der Club in der neuen Immobilie eine Heimstatt finden würde war mehr als fraglich, denn die Jahre verstrichen, ohne dass etwas geschah. Erst 2009 erfolgte der Abriss und anschließend der Bau der euphemistisch „Tanzende Türme“ benannten Büroriesen. Es ist der Beharrlichkeit der Clubbetreiber, aber auch von Lokalpolitikern zu verdanken, dass der Mojo nun tatsächlich nach zehn Jahren Abwesenheit wieder an alter Stelle seine Pforten öffnen konnte, denn Voraussetzung für den Bau der Hochhäuser war, dem Club in den Kellergeschossen ein neues Refugium zu schaffen. Bei allem gutem Willen der Beteiligten war die Reanimation dennoch eine Operation mit ungewissem Ausgang. Zum Charme des alten Mojo gehörte schließlich das heruntergekommene Waschbetondomizil und die improvisierte Inneneinrichtung. Stattdessen nun ein durchgestylter perfekter Neubau? Würde sich so wieder die Atmosphäre von einst einstellen? 

Rang (Foto: Thomas Baecker)
 „Going Underground“ – getreu dem Schlachtruf der Mod-Band The Jam überlässt der Mojo den Spielbudenplatz dem Massen-Entertainment und bleibt (das Mojo Café im Erdgeschoss eines der Bürohäuser ausgenommen) bis zum Beginn der Nacht unsichtbar. Dann öffnen sich zwei mit dem berühmten Logo verzierte Bodenluken und die Wissenden steigen hinab in die Tiefe – was für eine symbolische Geste. Einmal eingetaucht in die Untergrundwelt auf zwei Ebenen (Architekten: Thomas Baecker Bettina Kraus) verlieren die bis zu 800 Besucher rasch die Orientierung. Keine Schilder weisen zum Dancefloor, zur Garderobe oder den Toiletten. Die einen stört das Umherirren, die anderen erkennen die Chance, die in einem ziellosen Schweifen liegt: Man verliert sich in Raum und Klang, lernt Leute kennen. Im Kern jedoch wurde hier eine Ästhetik des Verzichts zelebriert; der Club nimmt sich zurück und wird zum ordnenden Hintergrund für das, was wirklich zählt: Musik, DJs, Bands und Tänzer. Das wird nirgends so offenbar wie im Allerheiligsten: Über zwei Etagen erstreckt sich der eindrucksvolle große runde Saal, der für die Tänzer einen schwimmend gelagerten Boden aus geölten Multiplexplatten bereit hält, für DJs und Bands eine große Bühne und für Zuschauer eine geschwungene Empore bietet. Mag Leif Nüske Vergleiche mit Opernhäusern wie der Scala ziehen – man kann diesen Saal auch als eine Reminiszenz an alte englische Ballsäle wie dem Wigan Casino lesen, in denen einst der Northern Soul zelebriert wurde. Das für einen Club ungewohnt helle und statische Licht, dass die Bewegungen der Tänzer gut erkennen lässt und der Kommunikation förderlich ist, passt bestens dazu. Die Rundform des Saals ist klug gewählt: Alles konzentriert sich nach innen, auf die Mitte – die Tänzer und Musiker stehen im Mittelpunkt.

Bühne (Foto: Thomas Baecker)
Trotz viel Betons besitzt der Mojo eine warme, angenehme Atmosphäre – akustisch wie optisch. Dies ist dem Material Holz zuzuschreiben, dass nicht nur den Tanzboden bedeckt, sondern auch für Wandverkleidungen sowie raumhohe perforierte, drehbare Holzlamellen (Buche-Multiplexplatten mit Mineralwollefüllung) verwendet wird um den Raum zu strukturieren und den Schall zu dämpfen. Die zwei Barbereiche schmiegen sich dezent um den Dancefloor. Sie bestehen aus nicht viel mehr als monolithischen schweren Betonwerkplatten-Tresen, die elegant zwischen den Materialien Beton und Holz vermitteln. Nicht das kleinste Sponsoren- und Werbelogo stört den Purismus – welche Wohltat im Vergleich zum optischen Chaos anderer Amüsierbetriebe. Diese Liebe zum Detail durchzieht den ganzen Club und hört auch bei den zu einem weiteren Kreisrund angeordneten Unisex-Toiletten nicht auf, deren Türen das Thema der perforierten Holzlamellen weiterführen. Dennoch wirkt die Gestaltung des Interieurs an keiner Stelle überambitioniert oder angestrengt; Nonchalance und Lässigkeit sind Primärtugenden. 

Toiletten (Foto: Thomas Baecker)
„Keep the faith“ ist das Motto der Rare- und Northern-Soul Szene, die einst auch im Mojo ihre Allnighter feierte. Der neue Mojo bewahrt den Glauben, aber er ist nicht in der glorreichen Vergangenheit stehengeblieben. Vielmehr transportiert er die Offenheit für Neues, aber auch die Wärme eines eminent sozialen Ortes voller verbaler und körperlicher Interaktionen in die Gegenwart – und das auf einem sehr, sehr hohen Niveau. Für die von allen Seiten bedrohte Musik- und Clubkultur auf dem Kiez ist der Kellerkoloss eingangs der Reeperbahn ein wichtiges Signal: Wir bleiben, notfalls im Untergrund.

Claas Gefroi

Erschienen im aktuellen "Jahrbuch Architektur in Hamburg 2013", Junius Verlag, Hamburg

Ein manischer Modernist: Heinz Emigholz

Vor einiger Zeit schrieb ich einen Beitrag für die Zeitschrift "Baumeister" über den Film "Parabeton. Pier Luigi Nervi und römischer Beton" des Dokumentarfilmers Heinz Emigholz. Im Zuge der Recherche führte ich auch ein Interview mit Heinz Emigholz zu diesem Film, aber auch zu seiner generellen Arbeitsweise und Motivation, das ich bislang nicht veröffentlicht habe. Ich denke, der Blog ist ein guter Ort hierfür.

Heinz Emigholz (Foto: May Rigler)



Gefroi: In Ihrem neuen Film zu Pier Luigi Nervi gibt es die Verknüpfung mit einer zweiten Ebene, den Betonbauten des antiken Rom. Könnten Sie die Idee dahinter erläutern?

Emigholz: Am Anfang stand mein Erstaunen darüber, dass beispielsweise die grandiose Kuppel des Pantheons sich über 2000 Jahre gehalten hat. Es ist bemerkenswert, dass der römische Beton diese Dauerhaftigkeit besitzt. Zum anderen interessierte mich die Modernität dieser Kuppel. Es mussten über 2000 Jahre vergehen, bis man mit der Jahrhunderthalle in Breslau wieder ähnlich große Kuppelbauten realisierte. Die Großzügigkeit, die Grandiosität dieser römischen Großbauten wurde von modernen Architekten und Bauingenieuren wie Nervi erkannt und sie haben viel von ihnen gelernt. Nervis Werk lässt sich ohne diese Vorbilder nicht verstehen. Deshalb war diese Verknüpfung für mich nahe liegend.

Giove Anxur, Terracina, 1. Jahrhundert vor Chr. (Filmstill)


G: Warum wählten Sie Nervi für Ihre monografische Reihe aus? Mit seiner Haltung, die Konstruktion zum bestimmenden Gestaltungsthema zu erheben und durch die kreative Nutzung des Stahlbetons, die zu ganz neuen Formen führt, nimmt er eine Sonderstellung ein. War das ein Grund? 


Nervi: Pionier des einfachen und eleganten Bauens

E: Ja. Er befand sich in einer Linie mit Maillart, dessen Arbeit ganz ähnlich ausgerichtet war. Neue Techniken führen bei beiden zu einer schnörkellosen und gleichzeitig extrem eleganten Gestaltung. Meine Filmreihe hatte zudem eine gewisse Schlagseite zur Architektur. Die Bauingenieurskunst, an der mir sehr viel liegt, war bislang nicht vertreten. Ich habe für den Film über Maillart Gespräche geführt mit Bauingenieuren und Tragwerksplanern wie Jörg Schlaich, David P. Billington und Christian Menn. Mich interessiert die Bauingenieurskunst vor allem im Gegensatz zur Architektur. Es gibt ja bis heute diesen Gegensatz zwischen den Disziplinen. Für Nervi beispielsweise war die Bezeichnung Architekt ein Schimpfwort.

G: Ein interessanter Widerspruch bei Nervi scheint mir zu sein, dass er selbst sich als Teil der modernen Bewegung sah, seine Entwurfshaltung jedoch teilweise durchaus in Kontrast zu deren Grundsätzen Funktionsgerechtigkeit, schlüssiges Tragverhalten, rationalisierte Herstellungstechnik stand. Stefan Polónyi schrieb in einem Aufsatz, dass die Tragwerke Nervis nicht unbedingt einer inneren Logik gehorchen. Die angestrebte Objektivität wurde nicht erreicht. Aber erst daraus, aus der Verkomplizierung, aus dem Mehr, entstand die Schönheit und die Eleganz der Tragwerke Nervis. Dieser Widerspruch wurde damals nicht erkannt.

Nervi, Salt Warehouses, Tortona 1951 (Filmstill)
 
E: In der Tat haben wir heute eine andere Sicht darauf. Für Nervi wie Maillart war aber der Wunsch maßgeblich, einfach und elegant zu bauen. Sie realisierten: Wir brauchen die tragenden Wände nicht mehr, wir können Pfeilersysteme entwickeln, die die Lasten tragen. Aus heutiger Sicht lässt sich dabei natürlich Inkonsequentes oder Überflüssiges kritisieren, aber das interessiert mich weniger, denn ich will keine kritischen Filme machen. Ich kann als Dokumentarfilmer nur davon ausgehen wie es ist, nicht wie es sein sollte.

G: Nach welchen Kriterien haben Sie die Bauten ausgewählt, die Sie gefilmt haben?

E: Ich habe zunächst die aus meiner Sicht wichtigen Gebäude ausgewählt, musste aber feststellen, dass man zu einigen keinen Zutritt erhält. Aus finanziellen Gründen waren die außereuropäischen Bauten von Nervi nicht erreichbar.

G: Erstaunlich finde ich, dass rationale funktionale Bauten wie Nervis Hallen und Kuppeln eine solche metaphysische, transzendente Wirkung entfalten. Die Kuppeln und Dächer scheinen zu flirren, zu schweben, erscheinen losgelöst. Sehen Sie das auch so und wenn ja, wollten sie diese Wirkung im Film einfangen?

E: Ja, insofern es ein Bestandteil des Bauwerkes ist. Mich hat besonders der Kleine Sportpalast in Rom fasziniert. Die die Kuppel stützenden Y-förmigen Stützen stehen im Außenraum und sind von innen, da hinter der Glasfassade verborgen, im Innenraum praktisch unsichtbar. Die Kuppel wirkt wie ein Zelt, ganz leicht, scheinbar schwebend. Aber ich dramatisiere solche Wirkungen nicht durch filmische Mittel. Das Bauwerk ist der Fakt. Ich habe meine eigene filmische Methode entwickelt. Einzelne Einstellungen fügen sich zu einem Spaziergang um und durch das Gebäude. Ich arbeite mit dem Vorhandenen: dem Gebäude, dem Licht, dem Ton vor Ort. Durch den Verzicht auf Inszenierung und Dramatisierung setzt das Gebäude selber etwas frei. Ich nehme eine menschliche Sicht ein, ich gehe durch das Gebäude und suche Standpunkte, die jeder Besucher einnehmen könnte.

Nervi, Palazzetto dello Sport, Rom, 1957 (Filmstill)


Die verlorene Aufrichtigkeit der Moderne

G: Woher rührt Ihr Interesse für die architektonische Moderne?

E: Das hat biographische Gründe. Ich bin in der Wiederaufbauzeit groß geworden. Ich entsinne mich noch an ein Micky Maus Heft aus den fünfziger Jahren, in denen die Hallen von Nervi abgebildet waren. Das hatte mich sehr beeindruckt. Davon abgesehen interessiere ich mich ja für eine ganz bestimmte Moderne und beispielsweise eben nicht für das Bauhaus. Der Auslöser dafür war die Beschäftigung mit Louis Sullivan und die fundamentale Neuerung, dass durch die Stahlskelettbauweise die Wände ihre tragende Funktion verloren und frei gestaltbar wurden. Mich interessiert die Frage, wie die Architekten und Ingenieure mit den völlig neuen Möglichkeiten des Stahlbaus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts umgehen, welche gestalterischen Qualitäten sie der neuen Technologie abringen. Gestalter wie Robert Maillart, Auguste Perret und Pier Luigi Nervi kamen sehr konsequent auf geradezu klassische Formen durch Ausprobieren, durch den Modellbau, denn vieles ließ sich damals einfach noch nicht berechnen. Die Tragfähigkeit wurde quasi experimentell bestimmt. Deren Bauten und Konstruktionen hatten eine Aufrichtigkeit gegenüber dem verwendeten Material, die ich bei heutigen Architekten wie Gehry, Foster oder Hadid nicht erkennen kann. Die Auswahl der Architekten für mein Filmprojekt „Architektur als Autobiographie“ war sehr subjektiv und stand schon ganz am Anfang fest, um 1993. Seitdem habe ich, die 60 Kurzfilme klammere ich einmal aus, diese Filme über das Werk von Sullivan, Loos, Maillart, Schindler, Nervi, Kiesler, Goff gedreht. Es wird jetzt noch ein Film über Auguste Perret und ein abschließenden mit dem Titel „Aufbruch der Moderne“ geben. Dann ist Schluss. Als ich mit diesen Filmen anfing war das Pionierarbeit, weil es diese Art der Architekturdokumentation noch nicht gab. Mir ging es darum, dem Zuschauer im Kino die Möglichkeit zu geben, das Werk dieser für die Baugeschichte enorm wichtigen, aber außerhalb von Fachkreisen zumeist wenig bekannten oder verkannten Architekten kennenzulernen. Deshalb habe ich die Bauten in den Filmen auch ganz simpel chronologisch gereiht. Wir können Bauten nicht über zwei, drei Fotografien erfassen, dazu müssen wir uns in ihnen und um sie herum bewegen. Der Film kann diese Raumerfahrung als Medium am ehesten zeigen.

G: Es gibt den Satz, wonach man nur das sieht, was man weiß. Analysieren Sie die Gebäude, um sie zu verstehen, bevor Sie sie filmen?

E: Nein. Ich kann fasziniert sein von einem Bauwerk, ohne es zu verstehen. Der Bahnhof in Chiasso von Maillart ist so ein Beispiel. Ich fand ihn fantastisch, ohne das Tragsystem begriffen zu haben. Das hat mir erst nach dem Filmen Jörg Schlaich einmal erklärt. Es war oft so, dass ich bestimmte Aspekte eines Bauwerkes erst nach dem Drehen begriffen habe. Aber Filmen ist in gewisser Weise auch eine analytische Tätigkeit. Sie sehen sehr viel konzentrierter, wenn sie durch den Sucher blicken, weil sie Entscheidungen über bestimmte Einstellungen fällen müssen. Das ist etwas völlig anderes als beim Spazierengehen seine Blicke schweifen zu lassen. Meine Arbeit ist es, einen dreidimensionalen Raum auf einer zweidimensionalen Bildfläche darzustellen, ihn in filmische Einstellungen zu zerlegen und in der Projektion neu zu konstruieren.


Film: Bildkomposition in der Zeit

G: Sie nutzen zumeist statische Einstellungen und keine Kamerafahrten oder -schwenks. Hat das seinen Grund in der beschriebenen Konzentration auf bestimmte Ausschnitte?

E: Ja, genau. Ich mag keine bewegte Kamera, die nur ein Symbol für Bewegung ist. Wenn die einzelnen festen Einstellungen gut komponiert und in einer Abfolge montiert sind, dann stellt sich ja ebenfalls eine Bewegung ein. Ich öffne mich dem Raum gegenüber und finde neue Blickwinkel. Die so gewählten Einstellungen sind durchkomponiert, austariert. In den Bildern gibt es meist Elemente, die im nächsten wiederauftauchen, so dass sie sich miteinander verzahnen und man einen Eindruck des Raumes erhält. Es ist ein bestimmter Blick, der diese Filme macht.

G: Die konsequente Bildkomposition wäre aber auch möglich im Medium der Fotografie. Warum der Film? Geht es um die Dimension der Zeit, die der Film hinzufügt? Es fällt auf, dass Sie zwischen raschen Schnittfolgen und lang andauernden Einstellungen variieren.

E: Das stimmt. Die grundsätzliche Entscheidung über die Länge der Einstellungen wähle ich vor Ort, auch wenn ich beim Schneiden oftmals noch kürze. Das Kriterium ist dabei die Komplexität des Bildes; man soll das Bild immer genau sehen können. Jedes Bild ist mir wichtig; es gibt keine Schnittbilder, die nur zu einem anderen hinführen. Zur Fotografie: Ich mag keine Tableaus, mich interessieren Bilder nicht, die sich zu wichtig nehmen, die die Essenz von etwas sein wollen. Wie soll man beispielsweise ein Bauwerk, das man nur in seinen vier Dimensionen begreifen kann, sinnvoll in nur einer Fotografie darstellen? Ich mag auch nicht die Isolation, das Herauspräparierte in der Fotografie. Deshalb beziehe ich in meinen Filmen auch immer stärker die Umgebung mit ein.

G: Wie laufen die Dreharbeiten konkret ab?

E: Ich schaue erst einmal, wie das Licht fällt und überlege dann, welche Bereiche ich zu welcher Tageszeit filmen will. Solche Entscheidungen muss man schnell fällen. Wenn sie gerade etwas sehen, kann es im nächsten Moment schon vorbei sein, weil sich das Licht so schnell verändert. Ich weiß da aber noch nicht, wie ich den Film schneide. Der Gang um oder durchs Gebäude entsteht erst am Schneidetisch und da gibt es viele Möglichkeiten. Ich drehe aber vor Ort solange, bis ich das Gefühl habe, ich habe alles Wichtige gefilmt und zwar so, dass es auch zusammenhängt. Wichtig ist mit dabei auch der originale Ton, den wir vor Ort aufnehmen und dann im Studio in tagelanger Arbeit abmischen. Durch den Ton kommen viele Dinge hinein, die man gar nicht sieht, weil sie im Off liegen, die aber bei der Wahrnehmung des Ortes eine Rolle spielen. Der Raum, seine Größe und Materialität, aber auch sein Umfeld, in dem er steht, wird durch den Ton mit definiert.

Nervi, Cuore Immocolato di Maria Chruch, Bologna 1962 (Filmstill)


Vom menschlichen Blick

G: Warum nutzen Sie fast ausschließlich das Normalobjektiv?

E: Ich will ganz einfach die menschliche Sichtweise auf ein Gebäude, deshalb nutze ich das Objektiv, was ihr am ehesten entspricht. Weitwinkelobjektive vermitteln eine ganz andere, verzerrte Sicht. Ich möchte auch nicht den Überblick in einem Bild, sondern, dass sich das Gebäude entfaltet im Laufe der Film-Zeit. Ich möchte das Gebäude so zeigen wie ich es vorfinde und nicht ein idealisiertes Gebilde.

G: Das ist sichtbar. Man ist erstaunt darüber, in welch schlechtem Zustand viele der Bauten Nervis sind. Das zeigen sie schonungslos.

E: Die mangelnde Pflege ist aber nicht das eigentliche Problem. Nehmen Sie den Palast der Arbeit in Turin. Die riesige Halle steht seit Jahren leer und wird demnächst in ein Einkaufszentrum mit mehreren Ebenen umgebaut. Die einmalige Konstruktion mit den Pilzpfeilern und den quadratischen, durch gläserne Fugen voneinander getrennten Deckenplatten wird dann nicht mehr sichtbar sein.

G: In Anbetracht der latenten Gefährdung der Gebäude bekommen Ihre Filme eine besondere Bedeutung. Unter Umständen sind sie die einzigen filmischen Dokumentationen.

E: Das ist so. Zwei der Häuser von Bruce Goff, die ich gefilmt habe, gibt es nicht mehr. Sie wurden von Wirbelstürmen zerstört. Viele Häuser sind aber auch schon so stark umgebaut worden, dass von der ursprünglichen Konzeption kaum noch etwas zu sehen ist. So etwas drehe ich dann nicht, weil es für mich keinen Sinn macht. Bei Goff oder Schindler ist das Problem, dass viele ihrer Einfamilienhäuser so einzigartig und maßgeschneidert sind, dass der Erhalt für die jetzigen Eigentümer eine finanzielle Überforderung darstellt.

G: Wenn man den tristen Zustand vieler der gezeigten Gebäude sieht: Ist das ein Symptom für den heutigen Zustand der Moderne, ihr Selbstbild?

E: Das weiß ich nicht. Aber es fällt auf, dass das Werk bestimmter Architekten wie Bruce Goff schlecht dokumentiert und auch wenig gepflegt wird, weil sie nicht zu den Großen der Moderne zählen. Hinzu kommt der vermeintliche Informationsüberfluss durch das Internet. Das täuscht über den geringen Bekanntheitsgrad solcher Architekten hinweg. Jeder Zuschauer meiner Filme kann sich Gedanken darüber machen, warum bestimmte Architekten in den Vordergrund gestellt werden und andere vergessen werden. Und das Werk von zum Beispiel Maillart oder Nervi leidet darunter, dass sich Architektur aktuell wieder zu einer Fassadenkunst entwickelt und die Tragwerkskunst eher gering geschätzt wird.

G: Herr Emigholz, vielen Dank für das Gespräch.

24. Februar 2014

Konnotationen des Raums


An dieser Stelle möchte ich das Werk von Timo Schierhorn preisen, einem brillanten Hamburger (Musik-) Videokünstler und Filmemacher. Seine Musikvideos dreht er (u.a. mit Katharina Duve) hauptsächlich für Hamburger Musiker und Bands wie Pascal Fuhlbrügge, Tocotronic, Deichkind, Die goldenen Zitronen und Die Vögel.


Wunderbar ist es, wie Schierhorn darin die alltägliche Umwelt dokumentiert, stilisiert und verfremdet. In Egoexpress' "Aranda" wurden die Häuser einer Straße in einem x-beliebigen Vorstadt-Speckgürtel gefilmt. Die immer gleiche Frontalausrichtung der Kamera lässt an die aneinander montierten Fotos von Ed Ruschas "Sunset Strip"-Serie denken oder auch an die Arbeit von Bernd und Hilla Becher. Dabei steht die nüchterne Darstellungsform in einem eindrucksvollen Kontrast zum Gezeigten: Die akkurat und liebevoll gestalteten Vorgärten, Carports und Wohnzimmerfenster faszinieren und erschrecken zugleich - Schönheit und Grauen liegen nah beieinander.




In die gleiche Kerbe schlägt das Video zu "Tremble" von Go Plus mit seinen Schützenverein-Aufmärschen, von dem eine fast hypnotische Wirkung ausgeht. Verstörend, wie gut hier Gleichschritt und Elektro-Pop zueinander passen.



Mehr Videos von Timo Schierhorn gibt es hier.

Der ewige Sommer


Selbst in Hamburg ist so etwas wie Frühling zu spüren. Die Sonne wärmt und die Luft riecht plötzlich wieder nach Erde und Vegation. Ach, möge es ein langer und heißer Sommer werden. Einer der wunderbarsten Orte, wo man ihn verbringen kann, ist das in den 1920er Jahren gegründete Strandbad Farmsen, in dem die Zeit irgendwann in den sechziger Jahren anfing still zu stehen.
(Fotos: Claas Gefroi)








Wie man eine Ära abschafft


St. Maximilian Kolbe in Hamburg-Wilhelmsburg, (Foto: Denkmalschutzamt Hamburg)
Der Internationalen Bauausstellung 2013 sei Dank erhielt das bis vor kurzem vor allem als "Problemstadtteil" bekannte Hamburg-Wilhelmsburg neue Impulse und mediale Aufmerksamkeit. Nun, nachdem die Fördergelder verbraucht und die Fernsehkameras abgebaut sind, scheint die ungute Tradition der Benachteiligung Wilhelmsburgs rasch wieder aufzuleben. Jüngstes Beispiel: Die örtliche katholische Gemeinde will die Kirche St. Maximilian Kolbe abreißen lassen.

Die 1974 eingeweihte Kirche des Architekten Jo Filke ist ein ganz und gar außergewöhnlicher Bau von großer Originalität und Schönheit. Geprägt wird er von einer runden Betonwand, die sich, einem Schneckenhaus gleich, in einer Spiralbewegung von außen nach innen himmelwärts schraubt. Nicht nur verbindet die Kirche auf diese symbolische Weise die Erde mit dem Himmelreich, sie ist auch ein einzigartiges Dokument dafür, wie die Forderung des Zweiten Vatikanischen Konzils nach einer "tätigen Teilnahme" der Gläubigen an den Gottesdiensten architektonisch umgesetzt wurde: Der Innenraum ist offen, Gemeinde- und Altarraum gehen nahtlos ineinander über, die runde Grundform fokussiert den Raum zugleich auf den Altar. Bauhistorisch muss man St. Maximilian Kolbe zu den wichtigsten Zeugnissen des Brutalismus und der Architecture parlante in Deutschland zählen.

Diesen bedeutenden Kirchenbau abzureißen wäre ein Frevel, der umso schwerer wiegt, als die Gründe kaum nachvollziehbar sind: Die Sanierungskosten von 400.000 Euro seien zu hoch und die Kirche stehe einer geplanten Erweiterung des benachbarten katholischen Seniorenheims im Wege. Für beide Probleme ließen sich mit etwas gutem Willen Lösungen finden, wie die Evangelische Kirche mit der erst abrissbedrohten und dann zur Kita umgenutzten Bethlehem-Kirche in Eimsbüttel bewiesen hat. Sollte der Abriss kommen, wäre für Wilhelmsburg ein wichtiger Fixpunkt in einem von Baukunst nicht verwöhnten Stadtteil vernichtet. Man kann nur hoffen, dass das Denkmalschutzamt sowie die Bezirkspolitik allen Einfluss geltend machen, um diese Architekturpreziose zu retten.

Immer an der Wand lang


Lärmschutzwand aus Beton an der Neubaustrecke Nürnberg–Ingolstadt (Foto: Sebastian Terfloth)
Man muss der Neuen Zürcher Zeitung, diesem kleinen großen Blatt, für die Veröffentlichung von zahlreichen Essays zu vermeintlich nebensächlichen und abseitigen Themen dankbar sein. Heute macht das Feuilleton mit einer ganzseitigen Kritik von Bernd Noack an den zahllosen Lärmschutzwänden entlang von Bahnlinien auf. Weil aufmüpfige Anwohner heute ihr Ruhebedürfnis auch gerichtlich erstreiten können, werde in vorauseilendem Gehorsam Schutzwall um Schutzwall errichtet, die dem Reisenden den Blickkontakt zur Umgebung nehmen und sensible Stadträume zerteilen: "Statt panoramatischem nur Tunnel-Blick. Statt inszenierter Landschaft nur die absolute Bildstörung und Augenblicke im Stroboskop-Stakkato. Statt Seelen-Balsam nur klaustrophobisches Zittern."

23. Februar 2014

Von der Stadt zur City


Gasse in der Innenstadt von London, Foto: Claas Gefroi


Eine ganz und gar empfehlenswerte Lektüre ist Hannelore Schlaffers Buch "Die City. Straßenleben in einer geplanten Stadt". Schlaffer ist eine feine Beobachterin der gegenwärtigen Zustände in deutschen Innenstädten. Ihre Analysen sind treffend und deprimierend zugleich, denn es ist die Beschreibung eines Kulturverlustes, den die Städte auf dem Weg zu „global vernetzten Provinzstädten“ erleiden. Der Bürger wird in ihnen auf die Rolle des Konsumenten reduziert, die Reichhaltigkeit öffentlichen Lebens schwindet. Wunderbar auf den Punkt bringt es diese kurze Passage:

„Heute gibt es in der City weder Gammler noch andere Originale oder Sonderlinge. Wo wäre der seriöse Herr, die feine Dame, wo der Angeber, der Geck, das beschwipste Paar? Und wo sind die beklagenswerten Existenzen, die Krüppel, Bettler, Tippelbrüder, Straßenhändler? Wo die Handwerker, Schuster, Schneider, Schmiede, die das alte Straßenbild durch ihre Arbeit belebten? Sie alle wohnten einst in der Stadt zusammen mit armen und reichen Müßiggängern, sie alle waren Chargen im Straßentheater. Inzwischen hat das organisierte Mitleid die Bedauernswerten eingesammelt und in für sie geeignete Ressorts ausgesiedelt; die Schönen, Reichen, Eitlen hat der demokratische Neid vertrieben, die Handwerker und kleinen Ladenbesitzer die Ökonomie. Aber auch die unterhaltsamen Ausrutscher in Kleidung und Benehmen, die jedem unterlaufen können, lässt die Sitte – oder ist es die Hygiene? - nicht gelten, nicht die Säufer, Anrempler, Anpöbler und Schreihälse. Die Sünde ist aus der Stadt verbannt, die Schönheit auch, und das Interessante ging mit beidem verloren.“

Hannelore Schlaffer: „Die City. Straßenleben in der geplanten Stadt“.Hrsg. von Anne Hamilton. Verlag zu Klampen, Springe 2013. 176 S., geb., 18,- €.